Kreuzweg zu anderen Ufern. Wolfgang Bendick
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Ja, der Toni meinte es richtig gut mit mir! Manchmal schien es mir, er wolle mich wieder auf den rechten Weg bringen. Gut, wir verstanden uns, hatten immer was zu bequatschen. Er war das, was man einen anständigen Buben nennt. Er hatte noch etliche Geschwister, die auch regelmäßig in die Kirche gingen. Doch waren sie auch Flüchtlinge und zudem eine kinderreiche Familie. Das machte sie schon fast zu Asozialen, und meiner Mutter war es gar nicht so recht, dass ich auch bei diesen aus- und einging. Aber immer noch besser als die Protestanten-Clique!
DAS MAIENWUNDER
Es war Mai. Der Wonnemonat Mai. Wo alle Blütenknospen aufgehen, auch die der Mädchen. Deshalb war dieser Monat der Jungfrau Maria geweiht. Jeden Abend fanden in allen Kirchen weltweit Maiandachten statt, bei uns im Dorf kam einmal wöchentlich eine Andacht in der ‚Grotte‘ im ‚Rauns‘ dazu. Dieses Bauwerk ähnlich einem nach einer Seite offenen Gewölbe hatte ein Bauer nach dem ersten Weltkrieg erbaut aus Dankbarkeit, dass er auf der Einzugsliste der Soldaten vergessen worden war. Es ist eine Art Nachbau einer Tropfsteinhöhle im ‚Zuckerbäckerstil‘ mit viel Beton, aber gut gemacht. Bisweilen stiegen wir die engen Treppchen hoch zum ‚Auskundschaften‘ und stibitzten ein paar Kerzenstummel, um an der Iller mit Schwemmholz ein Feuer zu machen…
Hier im Freien waren die Maiandachten, die abends stattfanden, so bei Sonnenuntergang, sehr romantisch. Es war hauptsächlich junges Volk anwesend, vielleicht, weil für die Älteren der Weg zu weit war. Hier traf man sich unter einem religiösen Vorwand, um mal etwas zu schwofen, Händchen zu halten, oder einen ersten Kuss zu wagen. Denn über allem wachte ja die heilige Jungfrau Maria, sicherlich etwas wehmütig, wenn sie sah, was sie wegen ihrer Jungfrauschaft alles verpasst hatte… Ihr zum Lobe wurden in eintöniger Weise Rosenkränze gebetet. Fünf mal zehn Ave-Maria, wobei man hinter der Nennung des Namens Jesu einen Zusatz einfügte, während die Fingerspitzen der Betenden langsam eine Perle nach der anderen weitergleiten ließen, um im Einklang mit den anderen Betenden zu bleiben. Wie ein Windhauch in den Wanten eines Schiffes schwoll der Klang der vielen Stimmen mal mehr, mal weniger an, um dann, nach einer kurzen Pause erneut zu beginnen, während die Finger eine neue Perle ertasteten. Oft wurde anschließend noch eine Litanei angehängt, weil sich die Betenden einfach nicht aus dieser inbrünstigen Atmosphäre lösen konnten. Das passte natürlich den jungen Leuten. Während im Sonntagsgottesdienst nach einer Stunde schon alle Hinterteile ungeduldig auf den Bänken herumrutschten, um endlich die Kirche verlassen zu können, war hier jede Verlängerung willkommen. Denn gut behütete Töchter aus katholischen Familien hatten nicht viele Gelegenheiten um Buben zu treffen.
Und hierher schleppte mich Toni. Und landete einen Volltreffer! Denn die hier herrschende Stimmung, diese Mischung von Sonnenuntergang, Kerzenflackern, Weihrauch und Gebetsrauschen drang bis in den Kern meiner Seele ein. Irgendwie war da entweder ein Vakuum gewesen, das sich jetzt auffüllte, oder aber ein Saatkorn von Mystik gelegen, das jetzt zu keimen begann. Vielleicht hat jeder Mensch diese Anlage in sich, wie ein Rettungsring für die Seele, wenn sie droht, im Sturm der materialistischen Welt unterzugehen.
Nicht genug der Maiandachten in der Grotte, von jetzt an ging ich jeden Maienabend auch in die Andachten in der Pfarrkirche. Mein Freund war immer dabei, sichtlich erfreut über meinen Wandel vom Saulus zu einem Paulus! Auch hier half das anfänglich von den bunten Kirchenfenstern getönte Dämmerlicht, welches sich dann, während des Betens langsam in tiefes Dunkel verwandelte, wohlig erleuchtet von den leicht im Lufthauch flackernden Kerzen, den mystischen Keim in mir wachsen zu lassen. Ich labte mich an dieser Atmosphäre, wie ein Opiumraucher an seiner Pfeife, wollte sie andauern lassen.
Natürlich hatte ich nie Opium geraucht, kannte das Wort nur aus Abenteuerromanen. Hatten wir kein Geld für Tabak, dann lasen wir Kippen auf und bröselten sie in unsere Pfeifen. Oder schnitten im Wald ‚Judenstricke‘ ab und zündeten sie an, diese langen Lianen, an denen wir uns manchmal wie Tarzan durch das Unterholz hangelten, laute Schreie von uns gebend, wie Jonny Weissmüller, wenn er Jane verfolgte. Mit ihrem Rauch husteten wir uns schier die Lunge aus dem Leib. Meine Mutter, die im Krieg als Krankenschwester im Lazarett das wieder zusammenflickte, was die Produkte der Waffenfabrikanten zerstückelt hatten, erzählte mir manchmal, dass sie den Verletzten Opium oder Morphium verabreicht hatten, wenn die Schmerzen unerträglich wurden. „Du hättest sehen sollen, wie friedvoll dann ihr Gesichtsausdruck war!“ Plötzlich verstand ich den Ausspruch Karl Marx, der Religion als Opium für das Volk bezeichnete! Eine Droge, um den Weltschmerz und die Sorgen des Alltags ertragen zu können. Bevor man davon durch den Tod erlöst wurde. Nie hatte ich einen solchen süßen Rausch erlebt wie an diesen Andachts-Abenden! Alkoholrausch kannte ich schon und ich schüttelte mich allein bei dem Gedanken, wie mir danach am nächsten Morgen zumute war. Der Rausch einer Andacht aber kannte keinen Kater am nächsten Morgen, mein Geist sehnte sich erneut nach diesem Zustand. Ich konnte ohne nicht mehr sein!
Der Mai und seine speziellen Marienandachten ging zu Ende und der Alltag mit dem üblichen abendlichen Rosenkranz um 20 Uhr trat an seine Stelle. Ich ging weiterhin abends in die Andacht, oft begleitet von meinem Freund Toni und bisweilen anderen, die wir für diese fromme Sache hatten gewinnen konnten. War das ein Anzeichen, dass ich süchtig geworden war? Waren die Rosenkränze bisher fast ausschließlich Altweibersache gewesen, so verjüngte sich jetzt das Publikum. Ich hatte bemerkt, dass eine alte Frau, die Mina, wohl ihr Leben lang Jungfer geblieben, sei es aus Hingabe zu Gott oder wegen eines zu kurzen Beines, vor den Andachten die Kerzen anzündete und sie nachher auslöschte. War sie verhindert, machte das der Pfarrer selber. Da ich ja inzwischen zu den ‚Regelmäßigen‘ gehörte und kaum eine Andacht ausließ, bot ich dem Pfarrer an, diese Tätigkeit zu übernehmen.
Der nahm mein Angebot erfreut an, sicherlich froh über meine plötzliche Begeisterung. Er erklärte mir, wie man die langen Stangen mit dem dicken Docht oben dran beim Anzünden handhabt und wie man beim Ausmachen mit dem gegenüber angebrachten Hütchen langsam die Flamme erstickte oder mit einem anderen Gerät, das eigentlich ein langes Rohr war, an dem sich unten ein Gummiball befand und oben ein Ring, auf der Innenseite mit Löchern versehen, ausblies. Man musste nun mit ruhiger Hand das lange Rohr zur Kerze führen, langsam den Ring um die Flamme postieren und auf den Gummiball drücken, um die Kerze auszublasen. Langsam verglühten die Dochtenden und verteilten ihren speziellen, mich schier berauschenden Duft im Kirchenschiff. Und wenn dann die schlurfenden Schritte der letzten Rosenkränzler draußen verstummt waren, gehörte die Kirche mir. Mir und Gott. Der Pfarrer war schon verschwunden oder werkelte noch in der Sakristei rum. Ich genoss diese Augenblicke wie ein Derwisch seine Trance. Mir war, als hätte ich mich nie zuvor so wohl gefühlt, sogar eine Selbstbefriedigung und der Orgasmus, der folgte, war nichts im Vergleich mit meinem jetzigen euphorischen Zustand! Vielleicht trug dazu bei, dass jetzt das Damoklesschwert der Todsünde und der ewigen Verdammnis nicht mehr über mir schwebte. Was ich tat, war ja in den Augen Gottes wohlgefällig, wie es irgendwo in der Bibel steht.
Um mich noch nützlicher zu machen und vielleicht auch um diese Atmosphäre länger andauern zu lassen, ließ ich mir vom Pfarrer zeigen, wie man die Frühmesse des nächsten Tages vorbereitet, wie man nach dem liturgischen Kalender des Bistums im Messbuch die richtigen Seiten ausfindig macht und mit Bändeln markiert, die Messgewänder in den entsprechenden Farben vorbereitet, den Wein bereitstellt oder öffnet und was sonst noch hinter den Kulissen zu tun ist, damit das Zeremoniell der heiligen Messe reibungslos abläuft. Somit wurde ich im Laufe der Wochen zum ‚Rosenkranz-Mesner‘ ernannt. Ich war irgendwie stolz darauf, obwohl mir bewusst war, dass Stolz eine der Kardinalsünden ist. Aber jetzt fühlte mich als vollwertiger Teil der Kirche und ging das erste Mal dem Gedanken nach, vielleicht eines Tages selber Priester zu werden. Ich erlegte mir selbst eine Prüfung auf: Da ja der Zölibat, also die Ehelosigkeit eine, vielleicht sogar die Hauptvoraussetzung für diesen Beruf ist, nahm ich mir vor, keusch zu leben.