Lourdes. Emile Zola
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»Gewiß, öffnen wir ein paar Minuten das Fenster. Aber nicht auf dieser Seite hier, denn ich habe Angst vor einem neuen Hustenanfall... Öffnen Sie es auf Ihrer Seite.«
Die Hitze wurde immer ärger. Man erstickte fast in der dicken, ekelhaften Atmosphäre. Es war eine wirkliche Erleichterung, als frische Luft hereinkam. Einige Minuten gab es jetzt andere Geschäfte zu besorgen, und eine allgemeine Reinigung fand statt. Die Schwester wusch alle Geschirre und Becken, deren Inhalt sie zum Fenster hinausschüttete, während die zur Hilfe beigegebene Dame mit einem Schwamme den Fußboden auftrocknete. Dann gab es ein neues Geschäft: die vierte Kranke, die sich bisher noch nicht gerührt hatte, ein zartes Mädchen, dessen Gesicht ganz von einem schwarzen Tuche verhüllt war, sagte, sie hätte Hunger.
Frau von Jonquière erbot sich gleich in ihrer ruhigen, ergebenen Weise, für sie sorgen zu wollen.
»Sie brauchen sich nicht darum zu kümmern, liebe Schwester. Ich werde ihr das Brot in kleine Stücke schneiden.«
Marie hatte sich in ihrem Verlangen nach Zerstreuung für die regungslose Gestalt, die sich unter dem schwarzen Tuche versteckt hatte, lebhaft interessiert. Sie vermutete, daß sie irgendeinen Schaden im Gesicht hätte. Man hatte ihr gesagt, es wäre eine Erzieherin. Die Unglückliche, Elise Rouquet aus der Picardie, hatte ihre Stelle verlassen müssen und lebte in Paris bei einer Schwester, die sie schlecht behandelte. Da sie aber kein anderes Leiden hatte, hatte sie kein Hospital aufnehmen wollen. Bei ihrer großen Frömmigkeit war es schon seit Monaten ihr heißer Wunsch, nach Lourdes zu gehen. Marie wartete mit stummer Besorgnis, ob sich wohl das schwarze Tuch heben würde.
»Sind die Stücke so klein genug?« fragte Frau von Jonquière in mütterlichem Tone. »Können Sie sie selbst in den Mund stecken?«
Unter dem schwarzen Tuche krächzte eine heisere Stimme nur halb verständliche Worte.
»Ja, ja, gnädige Frau.«
Endlich fiel das Tuch, und Marie fuhr entsetzt zurück. Es war ein Lupus, der die Nase und den Mund ergriffen hatte, ein Geschwür, das sich unter einem Ausschlage immer weiter ausbreitete und die Schleimhäute zerfraß. Der Kopf, der sich in die Form einer Hundeschnauze verlängert hatte, war mit seinen struppigen Haaren und seinen großen runden Augen abschreckend geworden. Schon waren die knorpligen Teile der Nase fast ganz zerfressen. Der Mund war eingefallen und nach links gezogen durch das Anschwellen der Oberlippe. Er glich einer schiefen, formlosen und unsaubern Kluft. Eine blutige Flüssigkeit, vermischt mit Eiter, floß aus dieser schrecklichen schwarzblauen Wunde.
»Oh, sehen Sie doch, Pierre!« murmelte Marie zitternd.
Den Priester überlief ebenfalls ein Schauder, als er sah, wie Elise Rouquet vorsichtig die kleinen Brotstückchen in die blutige Öffnung schob, die ihr als Mund diente. Alle in dem Wagen waren bei diesem fürchterlichen Anblicke bleich geworden. Und der gleiche Gedanke stieg in allen diesen so hoffnungsfreudigen Seelen auf: »Oh, Heilige Jungfrau! Oh, welches Wunder, wenn ein solches Leiden geheilt würde!
»Meine Kinder, denken wir nicht an uns, wenn wir uns wohl verhalten wollen«, wiederholte Schwester Hyacinthe, die ihr ermutigendes Lächeln bewahrt hatte.
Und sie fing den zweiten Rosenkranz zu beten an, die fünf Mysterien: Jesus in dem Ölbaumgarten, der gegeißelte Jesus, der dornengekrönte Jesus, der kreuztragende Jesus und der am Kreuze sterbende Jesus. Dann folgte der Choral: »Ich setze mein Vertrauen, Jungfrau, in deine Hilfe ...«
Man fuhr gerade durch Blois und war nun schon drei lange Stunden unterwegs. Marie, die ihre Augen von Elise Rouquet abgewendet hatte, ließ sie jetzt auf einem Mann ruhen, der die eine Ecke der anderen Wagenabteilung zur Linken einnahm, in der Bruder Isidor lag. Schon zu wiederholten Malen hatte sie ihn bemerkt. Er war noch jung und bescheiden in einen alten schwarzen Überrock gekleidet. Sein dünner Bart fing an grau zu werden. Klein und mager, mit einem abgezehrten, bleifarbenen und schweißbedeckten Gesichte schien er schwer zu leiden. Dennoch saß er ganz unbeweglich in seine Ecke gedrückt da, sprach mit keinem Menschen und starrte nur mit großen, weitgeöffneten Augen vor sich hin. Plötzlich bemerkte sie, wie die Augenlider herabsanken und er ohnmächtig wurde.
Sie lenkte die Aufmerksamkeit der Schwester Hyacinthe auf ihn.
»Liebe Schwester, sehen Sie doch! Diesem Herrn dort scheint es schlecht geworden zu sein.«
»Welchem denn, mein liebes Kind?« »Dort drüben dem, der den Kopf zurückgelehnt hat.«
Es entstand eine unruhige Bewegung, alle gesunden Pilger standen auf, um hinzusehen. Und Frau von Jonquière kam auf den Gedanken, Martha, der Schwester des Bruders Isidor, zuzurufen, sie solle dem Manne auf die Hände klopfen.
»Fragen Sie ihn, fragen Sie ihn, ob er leidet!«
Martha trat an ihn heran, schüttelte ihn und richtete wiederholt die Frage an ihn. Aber der Mann gab keine Antwort, er röchelte nur, und seine Augen blieben fest geschlossen.
Eine Stimme rief erschrocken:
»Ich glaube, er wird sterben.«
Die Furcht wurde größer, Worte schwirrten hin und her, und von einem Ende des Wagens zum andern wurden Ratschläge erteilt. Niemand kannte den Mann. Er hatte sich nicht in die Hospitalität aufnehmen lassen, denn er trug am Halse nicht die Karte mit der weißen Farbe des Zuges. Einer erzählte, er hätte ihn drei Minuten vor Abgang des Zuges ankommen sehen, sich mühsam fortschleppend, und dann habe er sich mit dem Ausdrucke unendlicher Müdigkeit in die Ecke fallen lassen, in der er jetzt im Sterben läge. Dann hätte er nicht mehr geatmet. Man sah übrigens sein Billett, das in dem Bande seines alten hohen Hutes steckte, der neben ihm hing.
Schwester Hyacinthe stieß einen freudigen Ruf aus.
»Oh, er atmet, er atmet! Fragen Sie ihn doch nach seinem Namen!«
Als ihn Martha aber von neuem fragte, stieß der Mann nur einen Klagelaut, den kaum verständlichen Schmerzensschrei aus:
»Oh, wie ich leide!«
Und von da an gab er nur diese eine Antwort. Auf alles, was man von ihm wissen wollte, wer er wäre, woher er käme, welches sein Leiden sei, was man für ihn tun könnte, antwortete er nicht, sondern stieß nur fortwährend den Klageruf aus:
»Oh, wie ich leide ... Oh, wie ich leide!«
Schwester Hyacinthe geriet in fieberhafte Aufregung. Wenn sie sich nur in der gleichen Abteilung befunden hätte! Und sie nahm sich vor, auf der nächsten Station, an der man halten würde, den Platz zu wechseln. Aber es kam jetzt lange keine Haltestelle. Der Kopf des Mannes sank immer tiefer herab.
»Er stirbt, er stirbt!« rief die Stimme von neuem.
Mein Gott! Was sollte man anfangen? Die Schwester wußte, daß ein Pater von Mariä Himmelfahrt sich im Zuge befand, der Pater Massias, der das geweihte Öl bei sich hatte und jederzeit bereit war, den Sterbenden die Letzte Ölung zu geben. Es starben jedes Jahr während der Fahrt mehrere Pilger. Aber sie wagte es nicht, das Alarmsignal in Bewegung zu setzen. Auch befand sich in dem von der Schwester SaintFrançois beaufsichtigten Kantinenwagen ein Arzt mit einer kleinen Apotheke. Wenn der Kranke nur noch bis nach Poitiers käme, wo man eine halbe Stunde Aufenthalt hatte. Hier würde ihm alle erforderliche Hilfe zuteil werden. Schrecklich wäre es, wenn er plötzlich sterben würde. Schließlich beruhigte man sich etwas. Der Unbekannte war zwar immer noch ohnmächtig, aber er atmete doch wenigstens regelmäßig