Durchhalten...!. Stefanie Münsterer
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Leider hatte ich in dieser schrecklichen Zeit wenig Unterstützung von meiner eigenen Familie. So, wie sie in den vergangenen Jahren besorgt um mich waren und sich um mich kümmerten, so wenig waren sie jetzt für mich da. Mein Bruder rief mich kein einziges Mal an, um sich nach mir zu erkundigen. Meine Eltern fragten in meinen zehn Wochen Arbeitsausfall nicht nach, wie ich zurechtkomme und wie es mir gehe. Vor meinem Rückfall gab es viele Streitereien in meiner Familie. Die Gründe möchte ich hier nicht erwähnen. Meine Eltern sagten mir Monate später, ich hätte doch bei ihnen um Hilfe bitten können. Sie wussten bei all den Streitereien nicht, wie sie mit mir umgehen sollten. Und um nichts Falsches zu tun, hätten sie lieber gar nichts getan. Ich war lange sehr wütend auf sie, denn sie haben in meinen Augen alle Themen vermischt. Ich war enttäuscht, dass sie ihr Kind im Stich und andere Themen nicht einfach ruhen ließen. Als mein Vater im Herbst zuvor eine schwere Entzündung hatte und zwei Wochen lang das Bett hütete, rief ich trotz Streit beinahe täglich bei meinen Eltern an und erkundigte mich nach ihm. Trotz aller Differenzen wollte ich ihnen in dieser Zeit beistehen und sorgte mich stark um meinen PaPa. Ich hätte mir so sehr gewünscht, sie hätten in der umgekehrten Situation ähnlich agiert. Ich hätte sie so gebraucht. Es hätte mir sehr gut getan, wenn sie mir ab und zu meinen Sohn abgenommen hätten. Das war nicht ein einziges Mal der Fall. Fabian vermisste seine Großeltern, und Christian musste zu dieser Zeit sehr viel arbeiten. Ich war eigentlich immer allein mit Fabian. Er merkte sicher, wie ich physisch und psychisch am Limit war. Doch ich war durch meine Depression nicht in der Lage, um Hilfe zu bitten. Später, als ich ihnen das alles einmal sagte – unter vielen Tränen – , waren sie mehr oder weniger verständig. Meine Mutter nahm sofort eine Abwehrhaltung ein und schob jegliche Schuld von sich. Mein Vater wirkte sehr betroffen. Ich glaube, er konnte sich in mich hinein fühlen, als ich erklärte, dass ich die depressiven Monate in einer Art Lähmungszustand verbracht hätte. Ich baute nach dem Gespräch darauf, dass die beiden zu Hause unter vier Augen nochmals darüber sprachen und sich austauschten. Vielleicht entwickelten sie so auch mehr Verständnis für mich. Unser Verhältnis veränderte sich jedenfalls ab diesem Zeitpunkt langsam wieder zum Positiven. Das tat mir gut, Fabian auch – und meinen Eltern sicher auch. Mein Mann war noch lange Zeit distanziert und argwöhnisch meinen Eltern gegenüber. Ich denke, das gegenseitige Vertrauen musste erst einmal wieder aufgebaut werden.
Meinen Bruder Martin hörte und sah ich fast ein Jahr nicht. Ich vermisste ihn auch nur wenig, da er mich zuvor sehr, sehr gekränkt hatte. Doch nun war ich wieder krank und dadurch erschöpft, depressiv. Ich vermisste ihn mehr und mehr und hoffte inständig, dass er sich um mich bemühte. Leider kam es dazu nicht.
Im März feierten wir in Nürnberg den Geburtstag unseres baldigen Patenkindes Laura. Sie wurde ein Jahr alt. Ich freute mich auf das Wochenende bei ihrer Familie, doch ich hatte auch höllisch Angst. Laura und ihre Familie hatten ein schwieriges Jahr hinter sich. Die beiden Schwestern sind nur knapp eineinhalb Jahre auseinander, und die Familie hatte allerhand zu tun mit zwei so kleinen Mädchen. Laura schrie in den ersten neun Monaten sehr viel und fand lange ihren Platz nicht. Doch nun ging es allen gut, die vier hatten sich zusammengerauft und waren glücklich miteinander. Ich allerdings hatte die zwei Tage lang immer einen Kloß im Hals und nahm mir ab und zu eine kleine Auszeit, indem ich mit unserem Hund Nora spazieren ging. Diese heile Welt konnte ich nur bedingt ertragen. Ich war geradezu eifersüchtig auf diese Situation. Was hatten die Eltern wegen ihres Schreikindes gestöhnt im vergangenen Jahr – ich hätte das Schreien gerne in Kauf genommen, wenn ich die Chance auf ein zweites Kind gehabt hätte. Ich bemühte mich, gute Laune zu bewahren, was mir sicher meist auch gelang. Doch es nahm mir zum Glück nie jemand übel, wenn ich mich für eine Weile zurückzog. Auf der anderen Seite genoss ich es auch sehr, wenn ich mich um die drei Kinder – Fabian, Lena und Laura – kümmern konnte. Zsóka wiederum genoss die Zeit alleine in der Küche, und ich spielte mit den Kindern oder ging mit ihnen raus. Ich befand mich in einem verflixten Zwiespalt. Ich wollte alles so gerne vorbehaltlos genießen. So wie mein Mann. Doch es fiel mir schwer. Im Nachhinein sehe ich, wie tief ich in meiner Depression steckte. Doch so richtig nahm ich das damals noch nicht wahr. Laura schenkten wir zum Geburtstag ein Bobbycar. Ihre Schwester hatte zu ihrem ersten Geburtstag von uns ein rotes bekommen, Laura nun ein gelbes. Fabian war eigentlich schon zu groß dafür, seine Beine waren einfach zu lang. Doch Bobbycar-Fahren war noch immer wichtig, und er hatte seine eigene Fahrweise entwickelt. Er kniete immer auf der Sitzfläche und schob mit einem Bein an. Und die kleine Kamikaze-Laura mit ihren zwölf Monaten schaute sich das ab und versuchte es ebenso. So eine verrückte Nudel. Als Überraschung bastelte ich ihr für ihre wilden Haarwirbel einen Haargummi mit einem Knochen aus weißem Fimo. Zsóka war begeistert und band ihn bei jeder Gelegenheit in Lauras dunkle Haare. Ihr hätte nur noch das Baströckchen gefehlt, dann hätte sie in den Dschungel gehen können.
Kurz nach Lauras Geburtstag starb Christians Opa. Er war beinahe neunzig Jahre alt und seit vielen Jahren schwer an Alzheimer erkrankt. Seit ungefähr vier Jahren lebte er in einem Pflegeheim, und meine Schwiegermutter kümmerte sich um ihn. Ich mochte ihn sehr, er war für mich der dritte Großvater. Als er endlich erlöst wurde, war ich unendlich traurig. Ebenso natürlich Christian. Die Beerdigung war sehr ehrenvoll. Fabian, Lena und Laura waren am Grab mit dabei und warfen ihrem Uropa ein paar Blümchen ins Grab. Zsóka und ich gingen aber bald mit den Kindern Richtung Friedhofsausgang. Wir hatten uns von ihm verabschiedet. Das war sicher wichtig. Es tut mir heute noch im Herzen weh, dass ein so kluger Mann, der er einst gewesen war, geistig durch eine Erkrankung so abgebaut hatte.
Unter der Kombination von drei Medikamenten ging es mir gegen Ende des Frühlings langsam besser. Früher spritzte ich mir das Humira kaum selbst. Ich war immer froh, wenn Christian dies für mich erledigte. Nun begann ich, es immer öfter selbst zu spritzen. Mein Mann war froh darüber. Ich glaube, es war nicht einfach für ihn, dauernd in mich hineinzustechen. Schließlich sah er dabei ja immer, wie ich das Gesicht verzerrte, wenn es wehtat. Das tut man seinem Partner sicher nicht gerne an. Daher pikste ich mich nun selbst. Es war halb so schlimm – wenn man es einmal gemacht hat, ist später keine Hemmschwelle mehr da. Außerdem impfte und spritzte ich in der Praxis auch, wieso also bei mir selbst zögern? Ich konnte das Kortison reduzieren, und damit wurde auch mein Schlaf wieder besser. Ich aß nicht mehr ganz so viel, und meine Unruhe und Nervosität ließen etwas nach. Nach wie vor wurde ich aber schnell müde, konnte mich nicht lange konzentrieren, und wenn mir etwas zu viel wurde, wurde ich sehr geräuschempfindlich und bekam Kopfschmerzen. An den Vormittagen, die ich immer allein zu Hause verbrachte, herrschte um mich stets eine Grabesstille. Eigentlich brauche ich sonst immer Musik um mich. Doch in dieser Zeit wollte ich absolute Stille. Nur so konnte ich mich und meinen Zustand ertragen.
Der Psychiater verschrieb mir im April zusätzlich Johanniskraut. Bald darauf kehrte ein altes Leiden zurück. Meine Unterarme und Hände wurden extrem wärmeempfindlich, und ich konnte Pullover oder die Bettdecke kaum mehr ertragen. Das ist eine „Schwachstelle“ von mir, die von einer Art Verbrennung herrührt, von der ich noch erzählen werde. Frau Dr. R. war entsetzt, als sie das hörte und ich ihr – mehr zufällig – vom Johanniskraut erzählte. Sie erklärte mir, dass das Johanniskraut erhebliche Probleme bereiten und mit dem MTX, also den Chemotabletten, zusammen eingenommen, die Wirkung schwächen könne. Außerdem würden beide Mittel die Haut lichtempfindlich und sensibel machen. Das war wahrscheinlich auch der Grund bei mir. Ich war wütend. Natürlich setzte ich die Kapseln sofort ab, und nach einer Woche waren meine Unterarme wieder ganz normal. Warum erzähle ich den Ärzten eigentlich, welche Medikamente ich einnehme? Scheinbar schert sich keiner um Wechselwirkungen, wenn sie mir etwas Neues verschreiben. Ich war ehrlich enttäuscht von dem Psychiater. Hätte er bei meinen Terminen tatsächlich meine Medikamentenliste, die ihm vorlag, überprüft, wäre mir das erspart geblieben.
Frau Dr. R. eröffnete mir, dass sie die Klinik in wenigen Wochen verlassen würde. Oje. Ich mochte sie so gern, sie war sehr kompetent. Und nun? Ich war verunsichert. In all den Jahren hatte ich immer irgendwelche absonderlichen Nebenwirkungen oder Symptome. Das meiste wurde untersucht und geklärt. Ich hatte keine Lust, beim nächsten Arzt alles aufs Neue zu erklären und dafür zu „kämpfen“, dass erneute