Hilmer. Jörg Olbrich

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Hilmer - Jörg Olbrich

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Art zu sein. Dennoch. Wenn sie energischer mit Hilmer umgegangen wären, gäbe es auch Turgi, Targi und Torgi inzwischen nicht mehr.

      „Ich habe die heiligen Schriften niemals gesehen“, erklärte Hilmer.

      „Ich kann dir versichern, dass sie existieren“, gab Helmut zurück.

      „Das reicht mir nicht.“

      „Was soll das heißen?“, fuhr der König Hilmer an. „Willst du damit sagen, dass ich mein Volk anlüge und betrüge?“

      „Ich will nichts dergleichen sagen“, entgegnete Hilmer. „Ich will mich nur nicht wegen ein paar alter Schriften in den Tod stürzen. Warum reformieren wir unseren Staat nicht? Es muss doch andere Möglichkeiten geben, unsere Bevölkerungszahl in den Griff zu bekommen, als diese unsinnigen Todessprünge.“

      „Es reicht!“, schrie Helmut und fuhr von seinem Thron auf. Dabei stieß er mit dem Fuß gegen einen Beistelltisch, auf dem ein paar Speisen und Getränke für den König bereitstanden. Zwei der Flaschen fielen um und zersprangen klirrend auf dem Steinboden des Audienzsaales. Dieter, der die ganze Zeit über neben seinem Herrn gelegen und so getan hatte, als ginge ihn das alles nichts an, sprang entsetzt auf und brachte sich in Sicherheit. Lediglich die Fliegen schienen sich für die auslaufenden Getränke zu interessieren. Sie landeten auf dem Tischchen und krabbelten auf die Lache zu, die sich langsam darauf ausbreitete.

      Helmut war jetzt sauer und nicht gewillt, sich noch weitere spitzfindige Fragen über den Wahrheitsgehalt der heiligen Schriften stellen zu lassen – weder von Hilmer noch von den anderen beiden Spinnern, die im Kerker auf seine Entscheidung warteten.

      „Würdest du dich denn nicht freuen, wenn du einen liebgewonnenen Freund länger als ein paar Monate bei dir hättest?“, wollte Hilmer wissen.

      Helmut, der gerade den Wachen den Befehl geben wollte, den Ungläubigen aus dem Saal zu schaffen, hielt überrascht inne. Über diese Frage hatte er sich in seinem bisherigen Leben noch keine Gedanken gemacht. Er hatte ja Dieter. Der Hamster lebte schon seit vielen Jahren im Palast. Das wechselnde Personal hatte der König nie richtig wahrgenommen.

      „Wenn du ein Eheweib hättest, würdest du auch nicht wollen, dass sie dich verlassen muss, nachdem sie dir einen oder zwei Nachkommen geschenkt hat.“

      „Schweig“, brüllte Helmut, dem innerhalb von Sekundenbruchteilen die Zornesröte ins Gesicht gestiegen war. Wenn es ein Thema gab, auf das man den König besser nicht ansprach, war es die Tatsache, dass er mit dem weiblichen Geschlecht nichts anfangen konnte und keine Nachkommen hatte. Wer König werden sollte, wenn Helmut einmal starb, war ihm egal. Vermutlich würde es der Lemming sein, der zu diesem Zeitpunkt am ältesten war. Freilich wäre dieser auch nicht viel älter und erfahrener als seine Artgenossen, weil ja alle nach Vollendung ihres fünfzehnten Lebensmonats sterben mussten.

      „Sollen wir den Kerl in den Kerker werfen?“, fragte Dieter nach einer Weile, in der es im Saal so ruhig war, dass man das Fallen einer Stecknadel hätte hören können.

      „Nein“, entschied Helmut. „Wir würden diesem Verräter einen Gefallen tun, wenn wir ihn in den Kerker werfen. Er muss sterben. Und das so schnell wie möglich. Ihr drei werdet dafür sorgen, dass euer Vetter noch heute von den Klippen des Todesfelsens springt. Und wenn ihr ihn hinunterwerfen müsst.“

      Der König ging ein paar Schritte auf Turgi, Targi und Torgi zu, die sich in die hinterste Ecke des Saales verzogen hatten, um nicht Ziel des königlichen Zorns zu werden.

      „Du kannst dich voll und ganz auf uns verlassen“, sagte Turgi.

      „Wir werden dich nicht enttäuschen“, versicherte Targi.

      „Der Ungläubige ist schon so gut wie tot“, behauptete Torgi.

      „Ihr seid Verräter“, schimpfte Hilmer und wollte sich auf seine drei Vettern stürzen, doch Dieter sprang ihm in den Weg und knurrte ihn böse an. Jetzt hatte er fünf Personen gegen sich. Seine Chancen standen nicht gut.

      „Du bist der Verräter“, entgegnete Turgi.

      „Ohne dich wäre das alles nicht passiert“, stimmte Targi zu.

      „Wir könnten längst tot sein“, jammerte Torgi.

      „Es reicht“, unterbrach Helmut das Gespräch zwischen seinen Untertanen. „Ich bin hier der Boss. Ich bestimme, was geschehen wird, und ihr habt euch an meine Anweisungen zu halten. Der Geist des furchtlosen Wonibalts wacht über mich. Wer sich meinem Willen widersetzt, wird niemals in das gelobte Land eingelassen werden.“

      Turgi, Targi und Torgi starrten den König entsetzt an. Jetzt stand auf einmal auch ihr persönliches Seelenheil auf dem Spiel. Das durfte nicht sein.

      „Ihr drei seid verantwortlich dafür, dass Hilmer stirbt“, sagte der König. „Erst wenn ihr mir persönlich von seinem Tod berichtet, soll es euch selbst erlaubt sein, den Weg über die Todesklippe zu gehen.“

      „Das ist nicht fair“, rief Turgi entsetzt.

      „Wir haben nichts Ungesetzliches getan“, versuchte Targi den König zu überzeugen.

      „Wir sind die Guten“, versicherte Torgi.

      „Meine Entscheidung ist gefallen“, sagte Helmut. „Und jetzt geht. Ich habe genug für heute und will nichts mehr von diesem Unfug hören.“

      Turgi, Targi und Torgi machten lange Gesichter, fügten sich aber ihrem Schicksal. Sie nahmen Hilmer wieder in die Mitte und führten ihn aus dem Palast.

      „Ich hoffe, dass nicht noch mehr Lemminge vor der Tür stehen, welche die Lehren des furchtlosen Wonibalts anzweifeln“, seufzte der König.

      „Für heute war es das“, sagte Dieter.

      „Das ist gut. Ich bin müde und werde mich ein wenig ausruhen.“

      „Ich werde dich begleiten“, entschied der Hamster. „Wollen wir doch einmal sehen, ob wir dich nicht auf andere Gedanken bringen können.“

      4

      „Habt ihr Blödmänner denn nicht ein bisschen Verstand im Kopf?“, jammerte Hilmer und wehrte sich verzweifelt gegen den Griff seiner Vettern. „Wo bleibt eure Familienehre?“

      „Du musst gerade von Ehre sprechen“, schimpfte Turgi, tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn und zeigte seinem Vetter so den Käfer.

      „Du bist derjenige, der den Geist des heiligen Propheten mit Füßen tritt“, sagte Targi.

      „Deine Seele wird in der Hölle schmoren“, prophezeite Torgi.

      Die drei Brüder trugen Hilmer den Hang des Schicksalsberges hinauf. Dabei hielten Turgi und Targi ihn an den Oberarmen fest. Torgi hatte ihn an den Füßen gepackt.

      Hilmer musste alle Kraft aufwenden, um den Kopf aufrecht zu halten. An Gegenwehr war nicht zu denken. Hilmer dachte angestrengt über seine bescheidene Situation nach. Ein Ausweg wollte ihm jedoch nicht einfallen. Nach wie vor war er der Meinung, dass alles besser war als der Tod. Sogar ein Leben im dunkelsten Verlies von Helmuts Palast hätte er dem Sprung vom Todesfelsen vorgezogen.

      An

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