Hilmer. Jörg Olbrich
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„Jetzt denkt doch einmal nach“, unternahm Hilmer einen letzten, verzweifelten Versuch, seine Vettern zu überzeugen. „Was soll euch denn im sogenannten gelobten Land erwarten? Im besten Fall ist das Leben genauso wie hier. Daran glaube ich nicht.“
„Was passiert denn deiner Meinung nach, wenn wir sterben?“, wollte Torgi wissen.
„Ich weiß es nicht“, gab Hilmer zu. „Dennoch kann ich nicht glauben, dass alles besser werden wird.“
„Rede nicht mehr mit ihm“, wies Targi seinen Bruder zurecht. „Der Ungläubige will nur noch seine Haut retten.“
„Du kannst mich ruhig beim Namen nennen“, zischte Hilmer. „Ich bin dein Vetter, verdammt noch mal.“
„Du bist unserer Familie nicht mehr würdig“, sagte Turgi.
„Und wenn du nicht endlich aufhörst zu nörgeln, bekommst du eine Maulschelle“, drohte Targi. „Wir wollen die Sache einfach nur hinter uns bringen.“
„Du hast dir das alles selbst zuzuschreiben“, stellte sich Torgi, den Hilmer noch am ehesten hätte überzeugen können, nun endgültig auf die Seite seiner Brüder.
Mittlerweile hatten die ehemals besten Freunde den Gipfel des Schicksalsberges fast erreicht. Die anderen Lemminge, die sich auf dem Weg zum Todesfelsen befanden, machten der eigenartigen Prozession Platz. Vermutlich hatte keiner von ihnen jemals davon gehört, dass man ein Mitglied ihrer Art hatte zwingen müssen, diesen Weg zu gehen.
„Jetzt haben wir unser Ziel endlich erreicht“, rief Turgi erleichtert aus.
„Nichts kann uns mehr aufhalten“, behauptete Targi.
„Wir werfen dich runter und springen dann hinterher“, freute sich Torgi.
Hilmer spürte wie ihm das Herz bis zum Hals schlug. Er wusste nicht, was er noch unternehmen sollte. Er war seinen Vettern körperlich weit unterlegen. Die Kerle würden nicht eher ruhen, bis sein Körper mit gebrochenen Knochen zwischen den Klippen lag. Auch von den Fliegen, die den Schicksalsberg umkreisten wie die Geier, konnte er keine Hilfe erwarten.
Die anderen Lemminge begannen nun damit, Turgi, Targi und Torgi anzufeuern. Sie boten den dreien sogar ihre Hilfe an, die diese aber stolz ablehnten. Hilmer erschrak bis ins Mark als er sah, wie sehr sich sein Volk darüber freute, dass einer der ihren mit Gewalt zum Tode gezwungen werden sollte.
Insgeheim hatte er auf Hilfe gehofft, merkte aber nun, dass er erst gar keinen Versuch unternehmen brauchte, einen der anderen auf seine Seite zu ziehen. Sie waren wie im Todesrausch und freuten sich so sehr auf ihren eigenen Tod, dass alles andere unwichtig geworden war. Auch Hilmer schloss langsam mit dem Leben ab. Den Jubelrufen entnahm er, dass direkt vor ihm einige seiner Artgenossen über den Todesfelsen gingen.
„Springst du freiwillig oder sollen wir dich hinunterwerfen?“, fragte Targi lachend, als sie die Kante erreichten.
Hilmer überlegte einen Moment. Wenn er sich freiwillig nach unten stürzte, hatte er zumindest noch eine Chance, Einfluss auf seinen Sturz zu nehmen. Wurde er geworfen, würden seine Vettern schon dafür sorgen, dass er sich nicht irgendwo an einem Felsvorsprung retten konnte.
„Ich werde mir nicht die Blöße geben, mich von euch Verrätern hinunterstoßen zu lassen“, erklärte Hilmer. „Lasst mich los, ihr Blödmänner! Dann springe ich.“
„Nach diesen Sprüchen hättest du es verdient, dass wir dich auf die Klippen werfen“, zischte Turgi.
„Das wäre Mord“, entgegnete Hilmer. „Ich weiß nicht, ob der Geist des furchtlosen Wonibalts das gutheißen würde. Zumal Helmut gesagt hat, dass ihr mir die Chance zum Springen geben sollt.“
„Genug geredet“, erklärte Turgi und ließ Hilmer los.
„Genau. Es wird Zeit, dass wir endlich vorankommen“, sagte Targi.
„Es wird bald dunkel“, meckerte Torgi.
Hilmer ging an den Rand des Felsens und schaute nach unten. Seine Befürchtung, einer seiner Vettern könnte ihn stoßen, erwies sich als unbegründet. Scheinbar hatten Turgi, Targi und Torgi zu viel Angst, so dicht vor ihrem Ziel doch noch in der Hölle zu landen. Etwa zehn Meter unter sich entdeckte Hilmer einen Busch, dessen Wurzeln aus einem Felsspalt herausragten.
Mit ein bisschen Glück würden die Äste sein Gewicht tragen. Sicher hatte kein Lemming vor ihm versucht, sich so vor dem sicheren Tod zu retten. Die toten Körper zwischen den Klippen verrieten ihm, dass alle anderen im Gegenteil sogar das Ziel hatten, möglichst weit von den Felsen wegzuspringen. Er wunderte sich darüber, wie wenige Leichen er in der Tiefe erblicken konnte. Sicher gab es einen Aufräumtrupp, der die Kadaver entfernte. Hilmer hatte noch nie davon gehört, was mit den Toten geschah. Im Moment hatte er aber andere Sorgen und konzentrierte sich auf seinen Sprung.
„Willst du ewig da stehen?“, fragte Turgi ärgerlich und tippte Hilmer auf die Schulter.
„Wenn du nicht gleich springst, stoßen wir dich doch“, drohte Targi.
„Du wirst heute sterben“, freute sich Torgi.
Hilmer ging einen Schritt vor und merkte, wie er den Boden unter den Füßen verlor. Dicht am Felsen stürzte er in die Tiefe und sah auf einmal den Busch direkt unter sich. Der Lemming griff mit beiden Pfoten nach den Ästen und hatte Glück, dass er einen davon mit der Rechten zu fassen bekam. Ein entsetzlicher Ruck zog durch seinen Arm und drohte, ihn aus der Schulter herauszureißen.
Hilmer zog sich am Ast hoch und fand in dem Busch sicheren Halt. Von dort aus sah er nach oben, wo ihm Turgi, Targi und Torgi mit den Fäusten drohten. Er hörte die Stimmen seiner drei Widersacher, konnte ihre Worte allerdings nicht verstehen.
Er war seinen Vettern fürs Erste entwischt. Aufgeben würden sie aber sicherlich nicht. Hilmer sah sich nun den Felsen etwas genauer an. Zu seiner Überraschung war die Wand längst nicht so glatt, wie er befürchtet hatte. Sicher. Der Abstieg war gefährlich. Unmöglich war er aber nicht. Begleitet von den Beschimpfungen und Drohungen seiner Vettern machte sich Hilmer auf den Weg nach unten. Als ihm eine der nervigen Fliegen zu nahe kam, nahm er einen Stein und zerschmetterte sie am Fels. Zufrieden schaute er danach auf den reglosen, schwarzen Klumpen, der vor ihm an der Wand klebte.
5
„Wer bist du?“, fragte Hilmer und sah das Männchen verwirrt an, das in der Eingangstür der Wohnung stand, die er heute Morgen noch mit seinem Weibchen bewohnt hatte.
Hier stimmte etwas nicht.
„Mein Name ist Fred. Ich wohne hier.“
„Nein. Das tust du nicht“, sagte Hilmer, dessen Verwirrung sich jetzt in Ärger wandelte. „Das ist mein Appartement. Ich teile es mir mit meinem Weib Agnes.“
„Ach, du bist das“, sagte Fred, machte aber keinerlei Anstalten, Hilmer in die Wohnung zu lassen.
„Was soll das jetzt wieder heißen?“
„Agnes hat mir von dir erzählt. Ich dachte, du seist tot.“
„Wie