Pataphysikalische Geheimpapiere. Jules van der Ley
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Pataphysikalische Geheimpapiere - Jules van der Ley страница 7
Jugendstilglasarbeiten? Wer hat die denn gemacht? Ein verfluchter Wiedergänger, ein Untoter aus dem Harem von Gustav Klimt? Das ist ein schöner Kitsch. Meine Herren! Da ist ja Gelsenkirchener Barock noch ehrlicher. Und den absolut „brillanten Grund“ wieder zu gehen, gibt mir das Baguette, das ich unvorsichtiger Weise bestellt habe. Ich beiße rein und schmecke den kulinarischen Höhepunkt all meiner Alpträume: Remoulade. Man hat Glück im verregneten Soest, dass Remoulade mich unmittelbar ermatten lässt, sonst würde ich auch „interessante Akzente“ setzen. Dann könnten sie das Baguette von den „wunderschönen Jugendstilglasarbeiten“ putzen, „ausgeklügelt“ illuminiert, versteht sich.
Ich lege mich in mein Hotelbett und drehe Soest den Rücken zu. Dieses schöne, historische Hanse-Städtchen ist ein kitschiges Geschichtsbuch, in dem Tausende Touristen stumpf herumtappen. Aber sie tun den Soester was an, vermitteln ihnen die trügerische Idee, man müsste ihnen dankbar sein, dass man sein Geld dalassen darf. Die ausländischen Hotel-Betreiber sind die lobenswerte Ausnahme. Das Zimmer, das sie mir gaben, ist klein, aber hübsch, mein Fahrrad steht sicher in einer großen Garage, und das Frühstücksbuffet ist reichhaltig.
Am Morgen regnet es wieder. Im Schaufenster eines Friseurladens hängt das lebensgroße Bild einer lasziven Frau. Sie ist geschminkt wie eine flippige Prostituierte, reißt den Mund weit auf und schreit: „Ich will, dass du kommst!“ Kurz hinter Soest im Dorf Ampen streckt mir von einem Plakat eine hübsche Frau ein Bügeleisen entgegen und ruft: „Ich will Ihnen an die Wäsche!“ Danke, die Sternstunden des Wortspiels haben die falsche Reihenfolge. Erst Bügeln, dann Kommen, aber nicht gegen Geld. Und außerdem will ich endlich ins Ruhrtal.
Was Deutschland zusammenhält – Ein Praktikant wird entmachtet – Schwerte ist nicht Schwerte – Von Soest ins Ruhrtal und weiter nach Schwerte
Meine Moral ist im Keller, was nicht an den anzüglichen Wortspielen liegt, die mir in Soest unterkamen. Die Tour ist verflucht ungesellig. Ich treffe keine Radfahrer, fahre meine Texte spazieren und finde keine Gelegenheit zu lesen. Der ständige Regen zehrt an meinen Kräften. Inzwischen packe ich morgens nicht, sondern stopfe alles nur irgendwie in die Taschen. Ab und zu telefoniere ich mit meiner Freundin und lasse mich ein bisschen ermuntern. Aus Aachen ruft mein Freund Thomas an und fragt, wo ich bin.
„Hinter Werl, es geht bergauf und regnet wie Sau.“
„Ich habe drei Kerzen für dich in St. Foillan aufgestellt, damit das Wetter besser wird!“
Wer solche Unterstützung hat, ist nicht verloren. In Essen erwartet mich morgen Blogfreundin Klara, vorher werde ich meinen Sohn Malte treffen, der schon geraume Zeit im Ruhrgebiet lebt und mich ein Stück begleiten will. Das alles tröstet, aber ich kriege kaum noch die Pedale rund. In Werl habe ich mir flüchtig die Innenstadt angesehen, vor einer Bäckerei ein Käsebrötchen gegessen und mir die Fahrradhandschuhe mit Remoulade eingesaut. Regen und Remoulade verfolgen mich hartnäckig. Der Regen wird bald aufhören. Aber der heilige Foillan wird seine Mühe haben, denn das Wetter darf schon seit Tagen ein Praktikant machen. Die Remoulade könnte ich loswerden, indem ich unterwegs etwas anderes esse als Käsebrötchen aus der Bäckerei. Aber inzwischen plagt mich ein wissenschaftliches Interesse. Soll es denn tatsächlich so sein, dass man von Hannover bis Aachen Remoulade auf die Brötchen schmiert? Ist Remoulade am Ende der Stoff, der Deutschland zusammenhält?
Ich möchte nicht wissen, wie viel Remoulade täglich durch die Verdauungstrakte der Deutschen gepumpt wird. Und wo ist die Quelle? Wo entspringt der Strom? Gibt es irgendwo unter der Erde einen schwabbelnden Remouladensee, aus dem er machtvoll hervorbricht? Kann man Boot darauf fahren, ist er am Ende sogar schiffbar und fette Remouladenköche fahren Patrouille? Wann, wie und warum kam die Remoulade in Deutschland an die Macht? Wie gelang es ihr, die regionalen Vorlieben zu überfluten? So eine aufdringliche Soße, die alle Geschmacksknospen versklavt und ungemein träge macht, sollte sie nicht wenigstens erst ab 18 sein? Mit solchen Fragen lenke ich mich ab von der Steigung, die nicht enden will, weil Regen und Gegenwind mich ausbremsen.
Auf dem Höhenrücken biegt ein Weg ab in den Wald. Unten muss das Ruhrtal sein. Ein erhitzter junger Mann auf dem Mountainbike kommt mir entgegen. Ja, ich sei auf dem richtigen Weg. Gleich gehe es steil bergab, und hinter einer Schranke werde der Belag auch besser. Tatsächlich, die Abfahrt über den aufgeweichten Waldweg dauert nicht lange, da gibt der tropfende Wald mich frei, ich sause hinaus und bin in Wickede an der Ruhr. Inzwischen hat St. Foillan den Praktikanten abgewatscht, und sobald ich in den Ruhrtalradweg einbiege, kommt die Sonne hervor. Danke, Thomas! Danke, hl. Foillan! O du herrlicher Sonnenball, mein Herz hüpft! Ich setze mich auf eine Bank und lasse mich bescheinen. Ein Schmetterling fliegt vorbei. Er hat die Regenfluten überlebt, welch ein Glück für unsere Urenkel. Sie müssen sich vielleicht gar nicht von Remoulade ernähren. Jetzt ist die Killersoße auf ihrem Zenit, beherrscht das Land von Ost nach West, von Nord bis Süd. Aber es wird ihr gehen wie dem Toast Hawaii. Dereinst wird sie nur noch Folklore sein, und keiner will sie mehr haben. Wenn jetzt nur nicht in Erikas Kneipe der allwissende Akrobat vom Thekenhocker fällt, einen trunkenen Soester Schmetterling unter sich begräbt und alles verdirbt.
Der Ruhrtalradweg ist eine beliebte Radfahrstrecke. Er ist Teil der Kaiserroute, die von Aachen nach Paderborn führt. Schon sehe ich die vertrauten Hinweisschilder. Zweimal bin ich die Tour von Aachen aus geradelt. Ich treffe eine Familie, Vater, Mutter, eine Tochter, zwei Söhne. Sie sind bis Winterberg im Sauerland mit dem Zug gefahren und rollen von dort mit den Rädern zurück nach Duisburg. „Das ist wie Motorradfahren“, sagt der Vater. Im Ruhrtal muss aber wieder gestrampelt werden. Hinter Fröndenberg ist die Route nicht gänzlich flach. Manchmal ragen Bergzungen bis dicht an die Ruhr. Vor vier Jahren haben ein Freund und ich prima im Fröndenberger „Haus Ruhrbrücke“ übernachtet. Heute komme ich aus der Gegenrichtung und erkenne das Hotel erst wieder, als ich auf der Brücke bin, wo der Radweg auf die andere Ruhrseite führt. Wie ich von der Brücke aus zurückschaue, wirkt alles wie früher. Der einzige Unterschied, ich habe mir heute Morgen beim Rasieren ins Philtrum geschnitten, und vor vier Jahren wusste ich nicht mal, wie dieser Bereich zwischen Nase und Oberlippe heißt, was vermutlich der Grund ist, dass ich mich woanders schnitt.
Sich ins Philtrum zu schneiden, das kann entstellen. Als ich noch für die Titanic „Briefe an die Leser“ schrieb, traf ich auf dem Titanic-Buchmessenfest einmal die Zeichnerin Hilke Raddatz. Sie macht die Karikaturen zu den Briefen, wenn ein Prominenter darin vorkommt. Jedenfalls, ach, guck mal, wie schön die Ruhr in der Sonne glitzert. Wie herrlich ist es auf der Sonnenseite des Lebens! Also, da sagte mir Hilke Raddatz, dass bei den Karikaturen der Bereich zwischen Nase und Oberlippe für das Wieder erkennen wichtig sei. Das wusste ich nicht, aber jetzt weiß ich, die Furche in der Mitte dieser Stelle heißt Philtrum, wobei Furche nicht wirklich trifft, denn es ist ja mehr ein sanftes Tal, das sich vor der Oberlippe zum Amorbogen aufschwingt. Der Amorbogen galt in der Antike als wichtige erogene Zone. Sonst würde er auch nicht Amorbogen heißen sondern vielleicht Oberlippenbraue. Oder Schwerte. Das ist aber nicht der sanfte Ausläufer des Philtrums, sondern unser Zielort, ein altes Ruhrstädtchen mit einem schiefen Kirchturm.
Man kann übrigens Schneider heißen und später Schwerte. Der ehemalige Rektor der RWTH Aachen hat es vorgemacht. Als eifriger Nationalsozialist war er Mitglied der verbrecherischen Organisation Ahnenerbe gewesen. Da hat er Hans Ernst Schneider geheißen. In den Nachkriegswirren ist er untergetaucht, seine Frau ließ ihn für tot erklären, und bald kam er als Hans Schwerte wieder ans Tageslicht und machte an der Hochschule Karriere. Es gab Mitwisser, doch man ließ ihn gewähren, behängte ihn sogar mit dem Bundesverdienstkreuz. Er war bereits 86 Jahre alt, als er von Reportern