Bautz!. Widmar Puhl
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Der Siegener Soziologe Rainer Geißler untersucht die Wohlstandsgesellschaft. Er hält es für typisch, dass in Wohlstandsgesellschaften die Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen zunimmt. Was Armut wirklich ausmacht, bleibt umstritten. Unumstritten steht aber fest:
Erstens ist Armut in entwickelten Gesellschaften relativ, also keine Frage des nackten Überlebens mehr – wie noch in vielen Ländern der Dritten Welt –, sondern eine Frage des menschenwürdigen Lebens. Zweitens: Armut bedeutet in jeder Gesellschaft und zu jeder Zeit etwas anderes. Drittens: Armut ist auch ein soziales Problem. Sie bedeutet nicht nur den Verlust existenzieller Chancengleichheit, sondern auch den weitgehenden Ausschluss von der Teilnahme am gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Leben. Dies bleibt nicht ohne psychische Folgen, unter denen nicht nur die Betroffenen selbst leiden. Auch diese Form der Entwürdigung, nicht nur die durch Gewaltverbrechen, meint das deutsche Grundgesetz mit Artikel 1, der lautet „Die Würde des Menschen ist unantastbar“.
Die Idee der Menschenwürde ist historisch gewachsen. Teile davon finden sich schon in der Antike und in der Gründerzeit aller Weltreligionen. Dazu zählt etwa der Gedanke, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Seit der Reformation gehört Gewissensfreiheit zur Menschenwürde. Aus der Aufklärung stammt die Einsicht, dass nur Freiheit, Gleichheit und Menschenwürde den Frieden sichern. Heute sind wir davon überzeugt, dass eine Demokratie die Menschenwürde am besten sichert. Doch der Demokratie droht die Pleite, wenn es immer weniger Steuerzahler gibt. Firmen sind nicht demokratisch organisiert und meist mehr am Gewinn als am Gemeinwohl orientiert. Nur sie können aber wirklich Arbeitsplätze schaffen. Zur Zeit jedoch tun viele das Gegenteil und flüchten aus der Verantwortung fürs Gemeinwohl.
Der Philosoph Immanuel Kant hat die Menschenwürde an sich definiert. Danach wird die Menschenwürde verletzt, wenn ein Mensch einen anderen bloß als Mittel für seine eigenen Zwecke benutzt – etwa durch Leibeigenschaft, Sklaverei, Unterdrückung oder Betrug. Das ist der Kern einer absoluten, objektiven Moral. Große Teile der Wirtschaft verhalten sich aber heute so, als wäre die Arbeitswelt ein moralfreier Raum, und deshalb häufen sich Armut und Verstöße gegen die Menschenwürde, die laut Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes unantastbar ist.
Die Menschenwürde wird auch verletzt, wenn die Opfer anonym bleiben – also bei Markentyrannei, Versicherungsbetrug, Steuerhinterziehung oder Missbrauch der Sozialsysteme. Ich finde, solchen Missbrauch treibt nicht nur der Empfänger von Arbeitslosengeld, der zugleich schwarz arbeitet. Eigentlich tun das auch – bisher ganz legal – Konzerne, wenn sie „Beschäftigungsgesellschaften“ für entlassene Mitarbeiter bilden, deren Gehälter hauptsächlich die Bundesagentur für Arbeit aus Steuermitteln und aus der Arbeitslosenversicherung zahlt.
Nach wie vor wäre in Deutschland Wohlstand für alle möglich. Doch zu viele sind z. B. einfach nicht bereit, auf Schwarzarbeit zu verzichten und ehrlich ihre Steuern zu zahlen. Zu wenige von denen, die wirklich viel haben, sind bereit zu teilen und sich etwa mit kleineren Gewinnspannen zufrieden zu geben. Sie schätzen Menschen nur als Kunden, aber nicht als Mitarbeiter. So entsteht Überfluss hier und Armut dort, hier ein menschenverachtendes Über-Ego, dort verletzte Menschenwürde.
Grundbedürfnisse und Gerechtigkeit
Was ist ein menschenwürdiges Leben? Gerade weil wir in einer weit entwickelten Gesellschaft leben, zeigt sich in schlechten Zeiten der Konflikt zwischen Armut und Würde: Hohe gesetzliche Standards, die sich auf moralische Grundwerte berufen, haben hohe Erwartungen an die Bürger und an die Sozialsysteme geschaffen. Doch jetzt muss gespart werden. Wie kann man aber soziale Standards senken, ohne die Menschenwürde zu verletzen? – Indem man sie bei allen und angemessen senkt, d.h. gemessen an dem, was wirklich notwendig ist.
Niemand regt sich auf, wenn ein Manager zehn Mal so viel verdient wie seine Angestellten. Aber 300 oder gar 1000 Mal mehr, das ist mit Leistung oder „Verantwortung“ nicht mehr zu begründen. Manchmal sind Entlassungen notwendig. Sie sind aber fragwürdig, wenn gleichzeitig die Managergehälter weiter so hoch bleiben. Es kann auch notwendig sein, ein Kaufhaus zu schließen oder mitsamt den Mitarbeitern zu verkaufen. Aber wenn es in einem angeschlagenen Konzern Gewinne macht? Alles nur auf Druck der Banken?
Ein anderes Beispiel: Bezahlter Urlaub ist notwendig. Aber kein moralischer Standard legt den Anspruch auf 30 oder 20 Urlaubstage fest. Darüber sollte man reden können, wenn es gute Gründe gibt. Ohnehin verdient kaum jemand so viel, dass er es sich leisten könnte, 30 Tage lang auch wirklich Urlaub zu machen, d.h. etwa zu verreisen oder sich zum Beispiel in einem Hotel verwöhnen zu lassen, wo man sich tatsächlich erholen kann. Auch wer in eine billige Pension für 30 EURO am Tag geht, muss für drei gute Mahlzeiten am Tag noch einmal 40 EURO am Tag drauflegen. 70 x 30 macht aber schon 2100 EURO in 30 Tagen – pro Person, ohne Reisekosten und Trinkgelder. Für ein Paar oder gar für eine Familie ist meist gar nicht daran zu denken. 30 Tage Sommerfrische? - Für Durchschnittsverdiener unmöglich.
Was unbedingt zu einem menschenwürdigen und "anständigen" Leben gehört, ist umstritten. Denn wer definiert, was dazu gehört? Die meisten dieser Definitionen stammen von „Fachleuten“, die eigentlich Interessenvertreter der einen oder der anderen Seite sind. Doch ein „runder Tisch“, bei dem jede Gruppierung gleichberechtigt ist, macht bei moralischen Fragen nur Sinn, wenn alle die gleichen Überzeugungen zu bestimmten Grundwerten haben. Und das ist bei existenziellen Fragen von Armut und Würde nicht der Fall.
Allenfalls entsteht ein ausgewogenes, repräsentatives Meinungsbild. Das aber ist deshalb noch nicht demokratisch legitimiert oder gar gerecht. Ein repräsentatives Meinungsbild kann auch entstehen, wenn man kritiklos die gesammelten Vorurteile aller Interessengruppen in den Medien abbildet. Bei den erwähnten „Fachleuten“ allgemein anerkannt ist die Bedürfnispyramide, die der amerikanische Psychologe Abraham Maslow 1968 als Modell zur Beschreibung menschlicher Motivationen entwickelt hat. Die Stufen der Pyramide bilden menschliche Bedürfnisse. Doch wer genauer hinschaut, dem kommen schnell Fragen. Denn so einfach, wie die Pyramide aussieht, ist das Leben dann doch nicht.
Auf der ersten Stufe stehen körperliche Grundbedürfnisse: Essen, Trinken, Schlaf, Sex, Gesundheit. Hier scheint alles klar zu sein. Doch halt: Schlafforscher wissen: das tatsächliche Schlafbedürfnis weicht oft vom subjektiv gefühlten Schlafbedürfnis ab. Und so stark der Sexualtrieb auch ist, erfüllte Sexualität bleibt ein Glück, zu dem immer zwei gehören. Auch ein Recht auf Gesundheit gibt es nicht – höchstens ein Recht auf Schutz vor unnötigen gesundheitlichen Schäden oder Risiken. In unseren Breiten müsste man diese Grundbedürfnisse übersetzen in gesunde, ausreichende Ernährung, angemessene Kleidung für jede Jahreszeit und eine bezahlbare Wohnung mit funktionierender Heizung. Damit aber haben schon viele Zeitgenossen auch in Deutschland erhebliche Defizite. Nach der in vielen Pflegeheimen üblichen Maxime „Satt und sauber“ kommt man also nicht weit.
Auf der zweiten Stufe der Bedürfnispyramide steht der Wunsch nach Sicherheit: Haus, Job, Versicherungen, Zukunftsaussichten, Religion. So berechtigt diese Wünsche auch sind, ein Recht auf ihre Erfüllung gibt es nicht – außer beim Recht auf freie Religionsausübung. Mit so starken Triebkräften spielt man nicht ungestraft. Wie oft reden uns Werbung oder öffentliche Meinung ein, jedem müsse alles möglich sein? Sicherheit: da fallen vielen Beschäftigten nur noch zynische Bemerkungen ein. Zukunftsaussichten? – Rabenschwarz. Versicherungen? – Nur wenn du sie bezahlen kannst, und solange sie nicht zahlen müssen!
Auf der dritten Stufe von Maslows Bedürfnispyramide stehen soziale Beziehungen: Partnerschaft, Freundeskreis, alle Formen sozialer Kommunikation von Kneipe und Sportverein bis hin zum Besuch der Oper. Darauf hat der Mensch als soziales Wesen bei uns ein Recht. Armut dagegen macht oft tatsächlich depressiv