Indische Reisen. Ludwig Witzani
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Die Stadt Varanasi, deren Name sich von den beiden Flüssen Varana und Asi herleitet und den die Briten zu Benares verballhornten, ist Indiens heiligste Stadt. Schon seitdem die indoarischen Einwanderer im ersten Jahrtausend vor der Zeitrechnung die Gangesebene besetzt hatten, wurde die Stadt in den altindischen Texten als ein besonderer Ort der Gnade und Vergebung hervorgehoben. Hier schrieb der große Guru Shankara zu Beginn des neunten Jahrhunderts seine Kommentare zu den Upanischaden und der Bhagavad-Gita, und im Zeichen Shivas begann von der Universität von Varanasi aus die Zurückdrängung des bis dahin in Indien dominierenden Buddhismus. Fast achthundert Jahre später, in der Epoche der mohammedanischen Mogulkaiser, wurde Varanasi mit Krieg überzogen, die Tempel der Stadt wurden zerstört, und zeitweise wehte über dem Ganges die strenge Fahne des Propheten. Umso stärker wurde Varanasi noch unter der britischen Kolonialherrschaft zum Zentrum einer tief empfundenen Volksfrömmigkeit und in der Vorstellung der Hindus aller Schulen zu einer der großen Pforten der Erlösung. So wie jeder Moslem mindestens einmal in seinem Leben nach Mekka pilgern sollte, so kann kein Hindu auf ein gutes Karma hoffen, der nicht wenigstens einmal in seinem Leben in Varanasi war.
Ich war am Ende einer zweitägigen Bahnreise von Delhi aus in Varanasi eingetroffen. Es war Winter, und von Norden wehte ein schneidender Wind über die Gangesebene. Frierend hatte ich mich durch die Nacht gezittert, mit klammen Fingern hatte ich im Hof des Guesthauses meinen ersten Tschai getrunken, ehe mich ich zu den Ghat von Varanasi aufmachte. Wie schon seit Jahrtausenden versammelten sich auch an diesem Morgen die Menschen auf den Treppen, legten ihre Saris oder ihre Lumpen ab und stiegen, nur mit einem Lendenschurz bekleidet, in den Fluss. Hagere, groß gewachsene Asketen mit langen, weißen Bärten, kahl geschorene, pechschwarze südindische Pilger und verwachsene Gnome, deren Knochen wie angeklebt aus ihrem Körper ragten, hoben die Hände zum Himmel, beteten und tranken das Wasser des heiligen Stroms. Jeder der Badenden, den ich von einem kleinen Boot aus beobachtete, vollzog sein Bad als einen Ritus, in dem sich Kollektives und Individuelles vermischten: Der sehnige junge Mann, der das Wasser des Ganges in ein Gefäß füllte um nachher mit seinem Guru zu beten, der rundliche Gemüsehändler, der sich nach der Waschung sorgfältig mit seinem Plastikkamm die Haare scheitelte, die Wohlhabenderen, die sich nach dem Bad die Körper massieren ließen - sie alle suchten im Wasser des Ganges die Last ihrer Sünden zu mindern.
Die Last meiner Sünden musste beträchtlich sein, denn so ausdauernd ich mich auch auf die Treppenstufen setzte - es wollte einfach nicht warm werden an diesem Wintermorgen. Ein dichter, kalter Nebel hielt die Kälte wie eine Glocke über dem Fluss, und die aufgehende Sonne war nur als eine milchige Kugel im Osten zu sehen. Nur manchmal wehte ein Windstoß die Nebelschwaden davon, und der Ausblick öffnete sich auf eine unwirkliche Flussfassade: verschachtelte hohe Gemäuer aus braunem Gestein, gekrönt durch die konisch geformten Hindutempeltürme, dazu Zinnen, Balkone, Fenster, Treppen, Fahnenstangen.
Im Laufe des Vormittags leerten sich die Ghats, und die meisten Pilger kehrten in die engen Gassen der Stadt zurück, aus der sie am Morgen gekommen waren. Nur die Yogis am Dasavamedah Ghat blieben sitzen. Sie trugen gleißend gelbe und rote Gewänder. Ihre Haare fielen ihnen wie Umhänge über die Schultern, ihre Gesichter waren alterslos, die Gesichtshaut gefurcht und mit roter Paste bemalt, die nackten Arme, mit denen sie ihre Stecken oder Dreizacks hielten, waren dürr wie abgenagte Hühnerknochen. Nicht alle meditierten, manche Yogis, die Gott Shiva in seiner Inkarnation als großer Ganjaraucher folgten, zogen sich einen Joint rein, wieder andere saßen erstaunlich entspannt am heiligen Fluss - die Beine ausgestreckt, den Körper mit dem angewinkelten Ellbogen an einer Stufe abgestützt, betrachteten sie die den Unrat, den der Ganges mit sich führte. Die Verschmutzung des Flusses machte den meisten keine Sorge, denn der heilige Strom wird schon die Kraft besitzen, sich selbst zu reinigen.
Asiatische Städte sind immer übervölkert, indische noch mehr, aber was ich auf meinem Rundgang durch die Gassen Varanasis erlebte, war eine Nummer für sich. Viele Gassen waren so eng, dass eine einzige der freilaufenden Kühe genügte, um sie völlig zu verstopfen. Aus jeder Straße, aus jedem Häusereingang, jeder Gassenbiegung ergoss sich ein immerwährender Passantenstrom, voller quirliger Aktivität, beweglich und fließend in alle Richtungen, blockiert und geschoben durch Rikscha- und Fahrradfahrer, Kühe, Prozessionen, Busse, Karren und Lastträger. Da war es wieder, das Dehli-Feeling, von dem ich nun lernte, dass es ein gesamtindisches Feeling war: Es handelte sich um eine Art Platzangst, die sich immer dann einstellte, wenn man sich gegen das Gefühl wehren musste, alle Bewohner der Stadt befänden sich auf der gleichen Straße wie man selbst. Zugleich gab es auf diesem agoraphobischen Bühnenbild etwas zu sehen. Hier neigte sich das zehnjährige Schweigegelübde eines Gurus seinem Ende entgegen, nur noch wenige Wochen waren zu ertragen, und man konnte sich daran erfreuen, dass der heilige Mann, von seinen Jüngern umgeben, schon wieder eine Zeitung las. Gleich daneben wurde ich Zeuge einer Schlägerei - zwei der sonst so friedlichen Inder hatten sich bei der misslungenen Abgrenzung ihrer Marktstände derart erhitzt, dass nun ihre Sippschaften mit großem Geschrei übereinander herfielen. Die allgegenwärtigen Kühe trotteten derweil über die kleinen Gemüsemärkte und knabberten so lange an den Salatköpfen, bis sie der fromme Hindu sanft von dannen schob. Wie die verdammten Seelen nach einem sündigen Leben hockten Affen missmutig auf den Häusersimsen oberhalb des Menschengequirls - von den Passanten herzlich verachtet, denn sie würden noch Dutzende besserer Leben brauchen, ehe sie einmal wieder als Mensch in einer Rikscha fahren könnten.
Am Gangesufer besuchte ich eines der großen staatlichen Krematorien, in dem die Ärmsten der Armen eingeäschert wurden. Das nie versiegende Sterben in dieser Stadt hatte immer wieder zu Seuchen geführt, und erst mit dem Bau moderner Verbrennungsanlagen schien man das Problem in den Griff zu bekommen. Was aber geschehen würde, wenn der Strom ausfiel oder ein Streik den Betrieb lahmlegte, daran mochte niemand denken. Für den etwas betuchteren Pilger, der von weither kam, um sein Leben hier zu beschließen, war diese Methode der Massenverbrennung ohnehin wenig verlockend. Er orderte lieber bei dafür besonders ausgewiesenen Dienstleistern die stilechte Verbrennung auf einem Scheiterhaufen. Solche Abfackelungen in aller Öffentlichkeit gehörten in Varanasi zum Alltag, überall kokelten die Kadaver am Ufer des heiligen Flusses, und ein scharfer Geruch nach verbranntem Menschenfleisch zog über die Ghats. Ich sah einen Leichnam im Zustand der völligen Entflammung bruzzeln und konnte beobachten, wie sich an einem bestimmten Punkt des Brennvorganges Oberkörper und Beine des Leichnams aufbäumten, als wäre gerade erst in diesem Augenblick der Seele ihre Flucht aus dem toten Körper gelungen.
Obwohl in Varanasi noch immer menschenbetriebene Rikschas in Betrieb waren, dominierte in Varanasi die Fahrradrikscha. Dabei handelte es sich um eine winzige, auf die Größe zweier schmaler indischer Hinterteile berechnete Kutsche, die durch ein vorne festmontiertes Fahrrad gezogen wurde. Als Gast eines solchen Gefährtes steckte man entweder im Stau, oder der Fahrer preschte in einer derartigen Geschwindigkeit durch das Menschengewühl, dass der Fahrgast jeden Augenblick fürchten musste, auf dem Rücken einer heiligen Kuh oder im Marktgemüse zu landen. Zielangaben wurden von den Rikschafahrern entweder nicht verstanden oder einfach uminterpretiert. So wurde ich in der ersten Nacht zu einem Hotel verfrachtet, in das ich überhaupt nicht wollte, ohne dass mir das aufgefallen wäre. Am nächsten Tag versuchte ich in zwei Anläufen vergeblich die Aurangazeb-Moschee zu erreichen, bis ich völlig entnervt die Fahrradkutsche verließ, um mich mit einem Boot zur Aurangazeb-Moschee rudern zu lassen. Aurangazeb, dieser letzte bedeutende Mogulkaiser, ist in Varanasi übrigens ebenso verhasst wie Nebukadnezar bei den orthodoxen Juden: Er ließ Varanasi mehrfach besetzen, die bedeutendsten Hindutempel zerstören, um auf ihren Trümmern Moscheen zu errichten.
Ein Besuch der zahlreichen hinduistischen Tempel ist dem Nichthindu in Varanasi verwehrt. Im Durgatempel im Süden der Stadt kann der Besucher allerdings von einer begehbaren Umfassungsmauer aus das Geschehen in einem Hindutempel beobachten. Ich erblickte einen kleinen Innenhof mit Marmorfußboden, an dessen Kopfseite ein blumengeschmückter Altar mit einer Abbildung der Göttin Parvati aufgestellt