Preis des aufrechten Gangs. Prodosh Aich
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Ab April 1960 ist der Tagesablauf durch die Auswertung der Untersuchung geprägt: aufstehen, gedankliches Sammeln, Frühstück, die Tabellenblätter sortieren, entlang einer Reihe von Tabellenblättern konzipieren, diktieren bis der Kopf leer ist. Meine Frau tippt. Ich erledige alles übrige. Dann meist in die Spätvorstellung mit Fräulein Lehner. Sie läßt uns bis abends in Ruhe, hilft uns, wo sie nur kann, und leidet mit uns den Streß durch.
Monat für Monat gehöre ich dem Institut ein Stückchen mehr. Ich bin jener Forschungsbeauftragte, der keinen Arbeitsplatz im Institut hat und auch kein Gehalt vom Institut bekommt. Jeder hofft, daß der Antrag beim Auswärtigen Amt durchkommt. Eine Planstelle als wissenschaftlicher Assistent ist solange nicht in Sicht, bis Scheuch nach seiner Habilitation eine andere Stelle bekommt. Nicht daß König mir eine explizite Hoffnung gemacht hätte. Nein. Dennoch wissen alle Mitarbeiter von König, daß die nächste Assistentenstelle für den neu entstehenden Schwerpunkt „Soziologie der unterentwickelten Gebiete“ eingerichtet und durch mich besetzt werden würde.
Ich halte immer mehr Vorträge. Die Zahl der Aufsätze wächst auch. Die „Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie“ berichtet auch über wissenschaftlichen Tagungen. Josef Gugler, jener freundliche Doktorand von König, der mich König vorstellte, und ich tauchen häufig zusammen im Institut auf. Irgendwann beginnt König, uns Max und Moritz zu nennen. Im Juni 1960 fragt er uns, ob wir an einem internationalen Seminar über „Leadership in the Nonwestern World“ in Wageningen (Niederlande) teilnehmen und darüber einen Bericht schreiben wollen. Wir wollten. Die Reisekosten würden übernommen, ebenso die Spesen vom 28.Juni bis 1. Juli, ein kleines Honorar winkt uns auch noch. Und lernen könnten wir auch von den Soziologiepäpsten auf diesem Gebiet der „Unterentwicklung“: W. F. Wertheim (Amsterdam), G. Balandier (Paris) M. Freedman (London).
Josef Gugler und ich haben eine etwas unterschiedliche Einschätzung über das Ergebnis und über den Nutzen des Seminars. Er ist nicht erbaut. Ich bin enttäuscht. Wir haben nichts Neues gelernt. Außer vielleicht, daß auch die Päpste nur mit Wasser kochen. Das können wir natürlich nicht schreiben. Und wie schreibt man einen Bericht zu zweit? Ich soll einen Entwurf machen. Josef Gugler ist erschrocken, als er meinen Entwurf liest. Alle drei Referenten sind Freunde von König. Lange Diskussion zwischen uns. Was stimmt im Entwurf nicht, frage ich ihn. Die Schärfe der Kritik wird etwas geglättet. Dann Audienz bei König. Josef Gugler berichtet, wie der gemeinsame Bericht zustande gekommen ist. König liest den Bericht sofort durch. Er ist einverstanden. Der Bericht erscheint unverändert in der „Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie“ (12.Jahrgang, 1960, Heft 3). Gugler ist überrascht.
Im Spätsommer 1960 kann ich überblicken, daß die Auswertung der Untersuchung und der Bericht für die Unesco, Paris, spätestens bis zum nächsten Frühjahr fertig sein könnte. Muß ich den Bericht zeitlich mit meinen Studien– und Prüfungsinteressen koordinieren? Wie soll es weitergehen? Auch materiell? Fragen, die ich nicht verdrängen kann. Aber es sind auch Fragen, auf die keine Antworten zu finden sind. So komme ich auf einen platten, in der Sozialwissenschaft gängigen Einfall und schlage König vor, zunächst einen Bericht für die Unesco zu schreiben. Danach könnte ich das gesamte Material für meine Dissertation theoretisch aufarbeiten. Was auch immer man darunter verstehen mag. König ist einverstanden. Am 29. Oktober 1960 stelle ich beim Dekan der philosophischen Fakultät einen Antrag um die Zulassung zur Promotion. Nach der geltenden Prüfungsordnung wäre die Prüfung erst im neunten Fachsemester möglich. Also wird der Antrag auch mit diesem Hinweis auf die Prüfungsordnung abgewiesen.
Das Auswärtige Amt bewilligt tatsächlich den beantragten Betrag: 20000,- DM für die Auswertung der Untersuchung. Im Dezember 1960. Die Ausgaben sollten noch im Haushaltsjahr 1960 abgerechnet werden. Wie? Aufgeregt fahre ich sofort zu König. Er ist hocherfreut über die Bewilligung und versteht meine Aufregung nicht. „Jüngling“, sagt er, „alles, Sachkosten, was Sie bisher für die Untersuchung verausgabt haben und Honorare, die fällig geworden wären, wenn das Geld rechtzeitig gekommen wären, alles, belegen Sie mit entsprechendem Datum, und rechnen Sie die 20000,- DM noch im Dezember 1960 ab. Es ist Lauferei, aber tun Sie es.“ Dann klärt er mich auf, wie das Ganze funktioniert.
Das Auswärtige Amt wird wissen, daß die Belege nicht echt sind. Wir wissen, daß das Auswärtige Amt wissen wird, daß wir wissen, daß das Auswärtige Amt weiß, daß die Belege nicht echt sind. Auch das Auswärtige Amt wird wissen, daß wir wissen, daß das Auswärtige Amt wissen wird, daß wir es wissen, daß das Auswärtige Amt es weiß, daß die Belege nicht echt sind. Nur darf keine Seite über dieses gegenseitige Wissen je reden. Es sind mühsame Tage, aber es funktioniert. Nein, ich dachte nicht an Korruption. Damals ganz gewiß nicht. Denn Korruption gab es und gibt es nur in den Bananenrepubliken!
Ab Dezember 1960 werde ich offiziell als „Forschungsbeauftragter“ geführt. Aber ohne einen Arbeitsplatz im Institut. Schwerpunkt: „Unterentwickelte Gebiete“. Die politische wie wissenschaftliche Diskussion hierüber beginnt anzulaufen. Es wird bekannt, daß ich in der Endphase der Auswertung einer größeren empirischen Untersuchung über die afrikanischen und asiatischen Studenten in Deutschland bin. Viele sind interessiert, noch vor der Veröffentlichung das Material einzusehen, um es für ihre eigene Arbeit verwerten zu können, wie beispielsweise Dieter Danckwort und Diether Breitenbach, beide damals bei der „Deutschen Stiftung für Entwicklungsländer“ in der Villa Borsig, Berlin–Tegel. Eifer dieser Art ist Vorbote für die nahende Hochkonjunktur des Themas. Das Ansinnen, Einblicke in das Forschungsmaterial anderer schon vor der Veröffentlichung zu gewinnen, hat nichts mit „grabschen“ zu tun. Es gibt eben smarte und weniger smarte Sozialwissenschaftler. Und nicht nur Sozialwissenschaftler.
Die „Deutsche Stiftung für Entwicklungsländer“ wird 1960 gegründet. Sie ist eine hundertprozentige Tochter des Bundes. Sie soll eine Reihe von „wissenschaftlichen Arbeitstagungen“ veranstalten. Zu der ersten – vom 2. bis 6. Januar 1961 – bin auch ich eingeladen. Ich soll auch über diese Tagung – geleitet wird sie von Arnold Bergsträßer – für die Kölner Zeitschrift berichten, zum ersten Mal allein, also nicht zusammen mit Josef Gugler. Teilnehmer dieser Tagung sind Wissenschaftler, die auf diesem Gebiet engagiert sind oder sich engagieren wollen.
Ich berichte nicht über jene 36 von 45 vorgesehenen „Kurzreferate“ von jeweils ca. 15 Minuten. Warum? Weil es darüber nichts zu berichten gegebenn hat. Ich berichte fast ausschließlich (Kölner Zeitschrift, 13. Jahrgang, 1961, Heft 1) über ein nicht geplantes längeres Referat von Ernst Bösch, Sozialpsychologe an der Universität Saarbrücken, dem nach 3½ „Arbeitstagen“ der Kragen geplatzt war. Es ist ein Levitenlesen. Auch über eine von den Stiftungsfunktionären abgewiegelte Resolution zur künftigen Gestaltung der Arbeit in der Stiftung. König bringt den Bericht in voller Länge, ohne diplomatische Glättungen.
Wenige Monate später kritisiere ich in einer Podiumsdiskussion die inhaltliche Arbeit und die materielle Ausstattung dieser Stiftung. Diese Veranstaltung findet in der Aula der Hamburger Universität statt. Es diskutieren: Fritz Baade (Prof. Dr. Dr. h.c., Mitglied des Bundestages (MdB) und Direktor des Forschungsinstituts für Wirtschaftsfragen der Entwicklungsländer), Viktor Kadalie, (ein promovierter Arzt aus Südafrika), Helmut Kalbitzer (MdB und Vizepräsident des Europaparlaments), Ludwig Rosenberg (stellvertretender Vorsitzender des DGB und Präsident des Wirtschafts– und Sozialausschusses der EWG) und ich. Der Kurator der Stiftung, F. G. Seib, fordert am 17. November 1961 König schriftlich auf, wegen meiner öffentlichen Kritik an der Stiftung in Hamburg mich nicht zu promovieren. Diese Deutsche Stiftung, heute die Deutsche Stiftung für internationale Entwicklung, handelt offener und ehrlicher als die Friedrich–Ebert–Stiftung. Ja, die deutschen Stiftungen!
Die ersten Monate des Jahres 1961 bin ich intensiv beschäftigt, den