Jakob Ponte. Helmut H. Schulz
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Für mich war damals der kurze Dialog zwischen den beiden Erwachsenen so verwirrend wie aufschlussreich, erfuhr ich doch, was wirklich unter dem Bild des Argentiniers stand. Augenblicklich hasste ich meinen Erzeuger und wendete mein Herz ganz dem Priester zu. Übrigens verschwand das Foto in der Folgezeit. »Ist er eigentlich kitzlig«, fragte Hochwürden plötzlich. »Wer«, fragte Mama befremdet zurück. »Jakob natürlich; man sagt doch, dass Kinder der Liebe kitzlig sind. Ich wollte es schon immer einmal nachprüfen.« Mama nahm die Gelegenheit wahr, sich für ihre Niederlage an ihm zu rächen. Lächelnd sagte sie, es handele sich um Dinge, die er ohne Zweifel längst ergründet habe. Die Probe an den Müttern, die Kitzelprobe sozusagen, sei ihm ja nicht verwehrt. Zustimmend griente er, murmelte etwas Lateinisches, von Mama peinlich nachgeschlagen und recherchiert, nämlich: virginem virginum, ante partum, in partu et post partum, so steht es im Tagebucheintrag. Mama aber hatte ihre Fassung wiedergewonnen, sagte sie verstünde sein Latein nicht, es enthalte aber sicher eine Kritik, und sie bat ihn dringlich, sich meiner anzunehmen und einen wahren Menschen aus mir zu machen, da nun einmal starke und geheimnisvolle Kräfte in mir am Wirken seien. »Vor der Geburt, während und danach Jungfrau der Jungfrauen ...; es riecht nicht schlecht in Ihrem Hause, meine liebe Maria, hat meine verehrte Frau Tante eventuell eine Ente in der Röhre?«
Das hatte sie in der Tat. Bei Tisch wurde Herr Fabian ein lustiger Herr, der nach einem kurzen Dankgebet zulangte, als habe er acht Tage lang gefastet, der Wein wie Wasser trank und sich auch noch wacker an das Dessert hielt, einen Pudding mit Mandeln und Rosinen, wie ihn Großmutter zuzubereiten verstand. Ich bestaunte seine Fähigkeiten und gedachte gut mit ihm auszukommen. Wer solche Portionen vertilgen konnte, musste stark sein und auch wieder der Ruhe bedürfen. Nach dem Essen raffte er seine Soutane und gab sich selbst den Befehl: »Die Pflicht ruft! Ab durch die Mitte! Bis zum Mittwoch!«
3. Kapitel
Jeweils am Mittwoch erschien er nun zum Mittagessen und nutzte die Zeit bis zum Kaffee, um mich in christlicher Religion zu unterweisen. Viel erinnerlich ist mir daran nicht, allein ich sehe ihn bequem im Sessel zurückgelehnt sitzen, die Hände über dem Leib verschränkt, ein Bein vorgestreckt, während ich ihm gegenübersitze, auf einem niedrigen Hocker ohne Lehne. Seine Stimme klingt heiser, aber nicht unangenehm, untermischt mit dem Latein, in dem er für gewöhnlich dachte. Ich kann nicht sagen, dass ich in dieser Zeit viel oder etwas Besonderes bei ihm gelernt hätte, nicht in diesen ersten Jahren, aber nach und nach kamen wir beide in ein freundschaftliches Verhältnis miteinander. Er pflegte mir mit seiner behaarten Tatze den Kopf zu streicheln; offenbar hatte ich sein Herz berührt. Vertrauensvoll lehnte ich meinen dürren Leib an seinen mächtigen Schenkel und genoss die körperliche Wärme, die er ausstrahlte. Es ist wohl möglich, dass ihm, dem Kinder im eigenen Hause versagt waren, bei meinem Anblick schmerzlich bewusst wurde, worauf er verzichtet hatte. Blindlings vertraute ich ihm, nahm jedes seiner Worte auf wie das Evangelium, und es war ja auch das Evangelium, das er mich lehrte. Aber ich war klug genug, mich vor seinem Zorn zu hüten. Obschon ich den Begriff des Sanguinikers nicht kannte, sah ich wohl, dass er sanft sein konnte wie ein Lamm und rasend wie ein Löwe. Wutanfälle dauerten bei ihm nicht lange, seine Stirn glättete sich, er lachte über sich, schlug wohl auch ein rasches Kreuzeszeichen, gleichsam, um sich bei seiner obersten Behörde für das Vergehen zu entschuldigen, und war wieder der alte. Der Ausdruck Wahlvater, den ich damals von ihm hörte, ist insofern irreführend, als nicht ich es war, der einen Vater gewählt hatte. Zutreffender könnte ich mich als seinen Wahlsohn bezeichnen. Aber aufs Ganze betrachtet, hatte ich Glück; denn bald bekannte ich mich vorbehaltlos zu diesem Mann, respektierte und liebte ihn wie einen Vater.
Es ging überhaupt aufwärts mit mir. Vor meinem Tischklavier sitzend, schlug Großvater eine Harmonie an und hieß mich die Tonart erraten; selten habe ich ihn enttäuscht. Es wird den Leser nicht in Erstaunen versetzen, wenn ich behaupte, dass sich sehr früh meine ausgesprochene Tonbegabung zeigte. Es gelang mir nicht nur stets, den Ton genau zu treffen, bald vermochte ich ihn sogar schon zu gestalten, konnte ihn an- oder abschwellen lassen, ihm das Crescendo geben, das Großvater vorsang oder vorspielte, sodass er ein über das andere Mal in helle Begeisterung fiel und vor Freude weinte. Aber ich war nicht nur Vokalmusiker, sondern auch Instrumentalist und vermochte jene leichten kurzen Stücke auf dem Klavier wiederzugeben, die der junge Mozart zur Freude seiner Familie und zur Beglückung der fürstlichen Höfe gespielt und komponiert hatte. Was die Musik betrifft, so verspürte ich tatsächlich große Genugtuung, wenn ich am Klavier üben durfte. Manchmal schielte ich zur Geige, der Hinterlassenschaft meines verschollenen Vaters. Großvater bedeutete mir, es handele sich um ein schwierig zu erlernendes Instrument. Man brauche dafür ein absolutes Gehör. Überdies handele es sich um eine Vollgeige; mir werde allerdings im kommenden Jahr gestattet sein, auf einem zunächst kleineren Exemplar, der sogenannten Viertelgeige, meine Begabung zu beweisen. Sollte ich Talent zeigen, so wollte er aus mir einen Meister machen. Sonderbarerweise konnte er viel Zeit mit der Musik verbringen, soviel, dass ich ihn einmal fragte, warum er nicht Musiker geworden sei. Da war das Geschäft; sein Vater hatte kein Interesse an der Musik, übrigens galt er im Musikverein als eine Autorität. Großmutter, die unser Gespräch mit dem Geklapper ihrer Stricknadeln begleitete und sich von Fall zu Fall einmischte, bemerkte hierzu:
»Eine Autorität? Ein Affe ist er! Mach Er mir den Jungen nicht verrückt!« Im Herbst übten er und ich etliches an leichter Weihnachtsmusik, von den Kinderlein, die da kommen und von dem Tannenbaum mit grünen Blättern, die es auch nicht gibt; aber während des Januar, nach Drei Könige, studierte der Domkantor mit dem Laienchor die Es-Dur Messe Schuberts ein, und ich hatte dank meiner Stimmbegabung die Ehre seine Sopranstimmen zu verstärken. Diese Messe, ein wunderbar reines Vokalwerk, eröffnete mir vom gesprochenen zum gesungenen Gloria, die Macht eines ergreifenden Werkes; sang also das Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, miserere nobis ... und so weiter mit, was Mama zu dem voreiligen Schluss verleitete, ich hätte mich zu einem guten Menschen gewandelt, was durchaus nicht der Fall gewesen ist. Überhaupt irrt, wer annimmt, dass Künstler mit der Gabe ihres Talents moralisch besser ausgestattet sind; im Gegenteil. Sie sind eine Plage außerhalb ihres Metier, Meckerer, Querulanten und Besserwisser und ungeheure Egozentriker. Mama spielte übrigens gelegentlich Flöte, allerdings ohne Lust. Ich erwähne diese Einzelheiten, weil meine musikalischen Fähigkeiten und Bemühungen in diesen Anfängen einen bestimmenden Einfluss auf meine Entwicklung genommen haben.
In jene Zeit fällt ein wichtiges Ereignis. Bis heute wirkt es nach, und ich darf nicht versäumen, darüber zu berichten. Eines Nachmittags ließ mich Doktor Wilhelmi in seine Praxis kommen; mir war nicht gesagt worden, weshalb. Der Arzt, Rassebeauftragter der Müllhaeusener Eingeborenen sollte sie nach ihren Erbanlagen klassifizieren. Nun war mein Vater urkundlich unbekannt, weil Mama seinen Namen nicht preisgeben konnte oder wollte; daher trug ich ihren Mädchennamen, das heißt, von dem Nachweis arischer Herkunft war ich so weit wie nur möglich entfernt, zur Hälfte immerhin nach den Nürnberger Gesetzen ein Mischling. Nun hätte Hochwürden Fabian den Namen meines Vaters vielleicht angeben können, er schwieg, gab vor, den Zettel mit dessen Personalien vernichtet zu haben, weil ja aus der vorgesehenen Trauung nichts geworden sei und die Sache somit erledigt. Eine andere Auskunftsquelle, das Standesamt, versagte ebenfalls, weil sich herausstellte, dass mein vorgeblicher Vater niemals die Trauung beantragt hatte. Aus dem Gästebuch des Hotels Zum Löwen war ebenfalls nichts zu entnehmen, als ein Name, der natürlich nichts besagte, auch wenn er durch die Kennkarte, dem damaligen Ausweis, bestätigt worden war. In meinem Falle hätte demnach geklärt werden müssen, ob ich als den Deutschen zugehörig angesehen werden konnte oder nicht. Allein wo sollten sie suchen, wenn es keinen Hinweis auf meinen Erzeuger gab? Eine Geige, die Meerschaumspitze und ein Bild mit fragwürdiger Widmung, damit wollte sich der Staat nicht zufriedengeben. Allerdings gab es eine wissenschaftliche Methode, meine arische Abstammung zu ermitteln und Gutachter war Doktor Wilhelmi. Soviel, um das Folgende zu erklären ...
Über der Uniform mit den beiden SS-Runen am Kragenspiegel