Dünenvagabunden. Katrin Maren Schulz
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Es gibt diese Momente im Leben, in denen alles klar ist. In denen zwar der Verstand weiß, dass da gerade eine recht große Entscheidung ansteht, eine Entscheidung, die Zuverlässigkeit und Verantwortungsbereitschaft verlangt. In denen aber zugleich der Bauch so laut, klar und deutlich „Ja“ sagt, dass er damit in einem solchen Moment die Entscheidung schon getroffen hat.
Mir ging es so in diesem Moment: mir war klar, dass dies eine Schicksalsfügung ist, zu der ich nichts anderes als „Ja“ sagen kann. Und als ich das tat, breitete sich auch auf Frau Martens Gesicht ein entspanntes, zufriedenes Lächeln aus, und sie nickte mir zu:
„Nun bin ich beruhigt, die Frage nach der Hausbetreuung während meiner Abwesenheit hat mich lange beschäftigt. Dass ich auf Sie aber nicht schon viel früher gekommen bin, sondern erst gerade jetzt?“
„Manchmal muss man einfach gemeinsam über die Dinge sprechen, die einen beschäftigen oder Sorgen bereiten, dann kommen die Antworten plötzlich, als würden sie vom Himmel fallen“, strahlte ich sie an.
Das ist nun ein halbes Jahr her. Wir haben uns auf für beide stimmige Konditionen geeinigt, Frau Martens und ich, und so bin ich nun so etwas wie eine Hausbetreuerin für ein Jahr. Ich werde es für zwei bis drei Monate im Frühling bewohnen, bis in den Sommeranfang hinein, und im Rest des Jahres kürzere Aufenthalte dort verbringen, sobald ich mich in Berlin ein paar Tage ausklinken werde können. Im Sommer haben sich ein paar Stammgäste eingemietet, solange sieht Hinrich nach dem Haus, und ich verdiene in Berlin mein Geld.
So ist das nun ein auf seine ganz eigene Art und Weise wahrgewordener Traum: ich habe, zumindest in diesem Jahr, eine feste Unterkunft in meinem Lieblingsküstenland.
Ich bin am Wendepunkt meiner Laufstrecke angelangt, der Plattform am Uferweg, deren Geländer sich hervorragend für Dehnübungen eignet. Das Wasser der Spree unter mir kräuselt sich im Wind, ein paar Enten kommen angeschwommen in der Hoffnung, ich sei ein Mensch, der ihnen Futter ins Wasser fallen lässt. „Mäck mäck“ schnattere ich ihnen zurück, es gibt nichts für euch, ihr müsst durchhalten wie ich.
Ich muss einfach noch diese zwei Monate durchhalten in Berlin, dann wird der Frieden wieder einkehren in mich. Und wenn ich mir das bewusst mache, dann tut er das schon jetzt: sich ausbreiten in mir.
Es ist eben, wenn ich zu lange nur in Berlin lebe, als würde meine innere Klarheit aus meinem Nordleben erstickt.
Es ist eben so.
„Mach dir nicht so viele unnötige Gedanken. Alles kommt so, wie es gut für dich ist, und zwar dann, wenn die Zeit reif dafür ist.“
Wer hat das jetzt gesagt? Viktoria, die 450 Kilometer entfernt ist, oder eine Stimme in mir?
Manchmal mag ich das ja gerne glauben, dieses Ding mit der Zeit, die reif ist oder auch noch nicht reif ist für die Erfüllung von Wünschen. Und ein anderes manches Mal macht mich diese mir dann zu esoterisch anmutende Haltung bockig: dann will ich jetzt, sofort, und zwar alles. Nützt aber meist auch nichts.
„Mach dich doch endlich frei von deinen Grübeleien und deinen Ängsten!“
Offensichtlich spricht Viktoria wirklich telepathisch mit mir. Lasse ich mich nun nicht davon irritieren, sondern nehme es an.
Viktoria!
Den ganzen Rückweg entlang sind meine Gedanken bei ihr.
Im letzten Jahr, gegen Ende meiner Auszeit in St. Peter-Ording, habe ich sie endlich kennengelernt; die Frau, die ich die Vagabundin genannt hatte, solange ich sie nur vom Sehen kannte. Viel Zeit hatten wir nicht mehr miteinander, aber immerhin zwei Begegnungen, in denen die Gespräche tief und ernst waren und die gegenseitige Mitteilung offen und direkt.
Ich erinnere mich gut an ein Gespräch, das wir abends im Strandkorb geführt hatten, in dieser letzten Zeit die uns blieb, bevor ich abgereist bin, zurück in mein Städterleben. Genau das war es, wozu mir Viktoria Löcher in den Bauch gefragt hat: warum ich mich für dieses Pendler-Leben entschieden habe, und nicht für ein komplettes Leben an der Küste, so wie sie.
„Erkläre mir dein Pendeln, so dass ich es wirklich verstehen kann. Ansonsten unterstelle ich dir Unentschlossenheit und Ängstlichkeit vor deinen wahren Bedürfnissen“, hatte Viktoria mich in der ihr eigenen Radikalität aufgefordert.
Ich mag diese Radikalität. Denn ich weiß, dass Viktoria mich damit nicht verletzen oder quälen will, nein. Sie will mich auffordern, meine Wahrheit für mich zu finden. Und weil sie ahnt, dass ich diese bereits gefunden habe, fordert sie mich auf, meine Wahrheit in deutliche Worte zu fassen.
Ich mag Wachrüttler. Ich mag Menschen, die reflektieren und Reflektion fordern. Ich mag eigeninitiative und selbstreflektierte Menschen. Vermutlich habe ich Eigenschaften eines solchen Menschen, sonst würde ich mein Leben nicht so führen, wie ich es führe. Meine Lebensführung, meine Gedanken, meine Erkenntnisse bergen keine abschließende Weisheit in sich, und nicht die absolute Wahrheit, natürlich nicht. Denn ich bin auf einem Weg, so wie jeder auf seinem ganz eigenen Weg ist, mit den eigenen kleinen und großen Schritten, im eigenen Tempo, für das es keine Bewertung von langsam oder schnell, gut oder schlecht gibt.
Ja, unser Gespräch im vergangenen Jahr, es hat mich gezwungen, klare Worte zu finden über meine Ansichten des Lebens, meiner Art zu leben. Viktoria hat mich gezwungen, und das war gut so. Es hat mich bekräftigt.
Im Laufe der Auszeit war mir vieles klargeworden in Bezug auf meine Lebensweise, der Frage nach Stadt- oder Landleben. Ich habe versucht, ihr meine damals neugewonnene Sicht zu beschreiben:
„Weißt du, Viktoria, in der Art, ein Leben zu führen und zu gestalten sehe ich kein gut oder schlecht, sondern unzählige Möglichkeiten dazwischen. In allen Lebensbereichen. Das Leben birgt solch eine Vielfältigkeit. Und ich meine, unsere große Chance - und übrigens auch unser Glück - liegt darin, diese Vielfältigkeit auskosten zu dürfen. Und so muss auch für einen Lebensraum nicht gelten: dieser oder jener, Stadt oder Land. Nein. Denn du kannst immer ein oder durch ein und ersetzen. Und genau das habe ich getan, weil ich beide meine Leben liebe, wie sie sind: das kleine, kürzere Leben, das ich hier auf der Halbinsel Eiderstedt führe, und das größere, längere Leben, das ich in der Stadt führe. Es sind wechselnde Lebensphasen innerhalb meines Jahres, die ich beide brauche. Und ich lebe in dem Luxus, beide ausleben zu können - warum also sollte ich mich für eine allein entscheiden müssen?“
Viktoria wäre nicht sie selbst, wenn sie dazu nicht ihre Zweifel kundgetan hätte:
„Nun gut, ich kenne dich in Berlin nicht. Aber was ich sehe, wenn ich dich hier sehe, ist, dass du aufzublühen scheinst und echter zu werden hier, je länger du da bist! Und das erinnert mich einfach allzu sehr an mich, und an mein Empfinden früher, wenn ich aus der Stadt an die Küste kam …“
An dieser Stelle hielt sie inne, und eine Woge von Erinnerungen schien sie zu ergreifen.
Sie malte gedankenversunken mit ihren Zehen Wellen im Zickzack in den Sand vor unserem Strandkorb, als seien die Wellen ihre Erinnerungen, bis sie mit dem flachen Fuß über alles hinwegfegte und der Sand wieder eben war und glatt. Dann erst fuhr sie fort:
„… wobei, wenn ich mich so recht erinnere, kann ich eigentlich