Dünenvagabunden. Katrin Maren Schulz
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Und auch die See ist meine Vertraute. An ihrem Strand, der auf den ersten Blick so karg und leer erscheint, spiegelt sich für mich die ganze Vielfalt des Lebens in Muscheln und Treibgut, Wellen und Gischt, und die See fordert auf, diese Vielfalt zu leben, indem sie mit ihrer Endlosigkeit bis zum Horizont die Grenzen ignoriert, die sich der Mensch gerne selbst auferlegt.
Viktoria sagt nichts, fragt nichts. Sie lächelt leise vor sich hin, ich sehe ihr an, dass sie sich darüber freut, dass ich da bin.
Sie werkelt in ihrer Küchenecke, macht uns Abendessen aus Kartoffeln, Weißkohl und Speck. Ja, stimmt, dieser Weißkohl, es gibt ihn überall hier in rauen Mengen, hier im Weißkohlland. Sogar Kohltage feiern sie hier.
Die Einrichtung ist spartanisch in Viktorias Backhaus. Das Allernötigste befindet sich in diesem einzigen ebenerdigen Raum, aber auch wirklich nicht mehr. Ein altes klappriges Sofa. Ein einfacher Holztisch, drei Stühle daran. Eine kleine Küchen-zeile, darunter unlackierte Holzregale, in denen ein paar Lebensmittel lagern. Ein Waschbecken. Ein eintüriger Kleiderschrank, kaum breiter als ich selbst. Viel Kleidung kann darin nicht sein. Nur in einer Ecke ein Regal, mit ein paar Kisten darin, Krimskrams wahrscheinlich, den jeder so hat.
Die Wände sind leer. An den beiden Fenstern befinden sich breite Fensterbretter, auf denen liegen Muscheln, Steine, Möwenfedern und allerlei Sammelsurium vom Strand. Über diesem Raum gibt es noch den Giebel, da liegt die Matratze auf dem Boden, auf der Viktoria schläft. Viktoria scheint nicht wirklich viel eigenen Besitz zu haben.
Kaum zu glauben, dass so diese Frau lebt, die ich vor einigen Jahren im Hamburg kennengelernt habe, denke ich mir. Dass sie ihre Bedürfnisse einmal derartig herunterfahren würde, hätte ich ihr damals nicht zugetraut. Und sie auf diesen Weg zu bringen, war in dieser Intensität auch nicht mein Ansinnen damals. Aber sie hat es sich so ausgesucht.
Es zieht durch die einfachen Fensterrahmen aus Holz, das Glas darin scheint nicht sehr stark zu sein. Und überhaupt, diese unverputzten Wände!
„War es nicht sehr kalt hier im Winter, Viktoria?“ frage ich sie.
„Ja, das war es. Ich muss in diesem Jahr etwas ändern an meiner Wohnsituation, ich weiß noch nicht wie, aber es muss wärmer sein in meiner Behausung im nächsten Winter. Und du, was möchtest du verändern?“ fragt sie mich mit einem augenzwinkernden Blick über die Schulter zu mir am Holztisch sitzend.
„Vielleicht alles“, platzt es aus mir heraus.
Viktoria dreht sich um und sieht mich an: „Ich dachte mir schon, dass du deshalb hergekommen bist. Und ich staune über diese Wellenbewegungen unserer beider Leben, diese Aufs und Abs. Noch vor einigen Jahren brauchte ich deine Hilfe bei meiner Neuorientierung. Jetzt bist du hier und brauchst meine?“
„Ja, die brauche ich. Denn ich weiß nicht, wo ich anfangen soll mit dem Sortieren dessen, was war, was ich habe, und was werden soll, was ich haben will. Und wer ich überhaupt werden will, wahrscheinlich auch.“
„Lass uns erst einmal essen. Danach gehen wir mit dem Hund raus, dabei sprechen wir weiter.“
Viktorias Kohltopf ist nahrhaft und deftig, ich schlinge einige Teller davon in mich hinein. Es ist, als würde ich damit nicht nur Nahrung in mich aufnehmen, sondern auch das beruhigende Gefühl, dass eine gute Zeit vor mir liegt, die mich wieder auf die Beine und auf festen Grund stellen wird.
Es ist eine schon fast frühlingshafte Abendstimmung, als wir Richtung Dünenwald aufbrechen. Der Wind hat sich gelegt, die Vögel singen aufgeregt ihre Frühlingslieder in den Märzhimmel. Blohm, Viktorias riesiger zotteliger Hund, gibt den Weg vor, den wir gehen, und den er selbst sicherlich schon auswendig kennt. Er wirkt wie ein weiser, gebildeter älterer Herr. Schade, dass er nicht sprechen kann.
Viktoria greift mein Thema wieder auf:
„Du hast vorhin nur von der Vergangenheit und der Zukunft gesprochen. Wenn du wissen willst, wohin dein Weg gehen soll, dann beginne in der Gegenwart. Was hast du, was davon soll bleiben, was soll sich verändern, und was kann wegfallen? Mir scheint, du pendelst gerade gedanklich zwischen Vergangenheit und Zukunft, ohne zu wissen, wo du überhaupt stehst, und wohin es gehen könnte. Das ist zu haltlos. Was du als allererstes brauchst, ist ein Halt, auf dem du aufbauen kannst.“
„Meine Gegenwart ist hier, jetzt in diesem Moment. Es gibt kaum mehr etwas, was Kai ausmacht, außer ein paar weniger Umzugskisten, die ich bei Freunden in Berlin untergestellt habe.“
Viktoria sieht mich erstaunt von der Seite an.
„Heißt das, dass es keinen Kai mehr gibt, der den nächsten Surfspot ansteuert? Keinen Kai mehr, der auf das nächste Abenteuer lauert?“
„Ja, das heißt es“, antworte ich ihr in einer Inbrunst, die mich selbst erstaunt. „Es gibt diesen Kai nicht mehr, für den es das Größte ist, um die Welt zu tingeln. Aber ich weiß noch nicht, was der neue Kai machen wird, und vor allem wo - hast du eine Idee?“
„Ja, ich habe eine Idee“, deutet Viktoria an, „aber zunächst fordere ich dich auf, deine Gegenwart anzusehen. Was hast du, was bringst du mit ein dein neues Dasein?“
Viktoria kann manchmal auch nerven. Nein, sie nervt mich nicht, aber ich empfinde die Fragen, die sie mir stellt, als unangenehm. Und gleichzeitig spüre ich, dass die Fragen gut sind, und dass ich sie mir selbst viel zu selten, vielleicht sogar noch nie, gestellt habe.
Was soll ich schon mitbringen? Pfff. Einen Rucksack voll Klamotten, und einen Kitesurf-Grundschein.
Aber Viktoria meint das nicht, das weiß ich. Das Materielle ist nur die eine Seite. Die andere Seite kommt von innen. Und genau dieses Innen ist gerade mein Fragezeichen. Oder doch nicht?
„Einen müden Abenteurer, der bislang viel auf Hedonismus gegeben hat, habe ich mit hierher gebracht“, platzt es aus mir heraus. Ich bin selbst überrascht. Viktoria offensichtlich nicht.
„Was bedeutet dir Hedonismus?“ hakt sie nach.
Hm. Wo ich diesen Begriff erklären soll, wird mir bewusst, wie nahe er dem Egoismus, oder der Egozentrik, ist.
War ich das, bin ich das - egozentrisch?
Unsicher wage ich eine Antwort:
„Klingt es sehr egoistisch, wenn ich damit meine, Lebenslust zu verspüren, Spaß zu haben, glückliche Momente zu sammeln, dem Genuss zu frönen, und Abenteuer zu erleben? Das ist schon das, was ich gerne erlebt habe, und auch gerne weiterhin erleben würde.“
„Das sollst du ja auch gerne, wenn du magst. Jeder Mensch sollte das tun, ein glückliches und frohes Leben führen, das hat sogar etwas mit Eigenverantwortlichkeit zu tun. Denn der Hedonismus fragt nach dem, was das Leben schön macht, das Leben zu etwas Besonderem macht, und das eigene Leben einzigartig. Er fragt nach Müßiggang, also der Zeit für sich und die schönen Dinge des Lebens, und er fragt nach Genuss und Lust. Auf dem Weg in die Eigenverantwortlichkeit zeigt keiner so deutlich, wozu dieser Weg gut ist, wie der Hedonismus, beziehungsweise das, was aus einer hedonistischen Lebenshaltung resultiert. Schwierig wird es dann, wenn du mit dem Ausleben dessen anderen schadest, womöglich über andere, die dich mögen, hinweglebst. Oder wenn du dabei derart in Saus und Braus lebst, dass du die Umwelt schädigst und ihre Ressourcen verschwendest.
Wenn du nun eine