-Grauer- -Adane-. Gunter Preuß
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Gunter Preuß
-Grauer- -Adane-
Zwei Novellen
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Inhaltsverzeichnis
GRAUER
Der Mann ging jeden Morgen um dieselbe Zeit und auf demselben Weg durch den Gebirgsort. Er trug zerschlissene Zimmermannskleidung, halbhohe, an den wuchtigen Absätzen schief getretene Schuhe und eine speckige Ledermütze. Die welligen grauen Haare fielen ihm über die Ohren und reichten bis in den Nacken, und der stellenweise noch schwarze Bart wallte bis auf seine Brust herab. Alles an ihm, selbst sein Gesicht, wirkte abgetragen und alt, aber nicht unsauber und immer noch tauglich.
Wie er so mit Raum greifenden Schritten durch den Ort ging, zog er die Blicke der Leute auf sich. Auch der Mann sah im Vorbeigehen jeden an, wie eben einer den anderen, wenn er sich von ihm ein Bild machen will. Man nickte sich zu, nicht freundschaftlich, eher auf Abstand bedacht und dem anderen ein Zeichen gebend: Hier bin ich. Die Bewohner des Ortes nannten ihn „Künstler“, und sie wussten, dass er einer der übriggebliebenen „Einheimischen“ war, der am Ortsrand, im beginnenden Fichtenwald das ehemalige Forsthaus bewohnte. Fast täglich und manchmal auch in der Nacht waren aus des Künstlers Grundstück Hammerschläge zu hören, als würde ein riesiger Specht sich an einem Felsen versuchen.
Der Künstler wusste von den „Zugezogenen“ nicht viel, nur dass die meisten von ihnen, wie neuerdings viele Städter, die es sich leisten konnten, „Stadtflüchter“ waren. Und obwohl er selten einmal mit einen von ihnen ein paar Worte wechselte, ging er doch eigentlich wegen der Menschen seine Runde, und weniger wegen des Ortes, der jeden Tag unmerklich in den Wald hineinwuchs und hier und da nur von den Felsen gestoppt werden konnte.
Als er heute wieder auf ein scheinbar über Nacht gegossenes Fundament stieß, spürte er diesen Schmerz, der in ihm schlief, zubeißen. Nun, da er seinen Weg gegangen war, wollte er noch zur Ortsmitte, wo auf dem ehemaligen Anger noch immer der Gasthof stand, in dem der Mann seine Kindheit verbracht hatte. Später dann, als er aus der „Fremde“ zurückgekehrt war, hatte er wieder hier gewohnt und ein paar gute Jahre verbracht. Hier, in aller Stille, hatte er mit seiner Familie den Umbruch erlebt, die Tage, in denen sich von heute auf morgen das Bild, wie man die Welt angeschaut hatte, auf den Kopf stellte. Das geteilte Land war wieder ein Ganzes geworden, und was gestern noch richtig war, das war heute falsch. Das Leben verlief jetzt nach anderen Gesetzen.
Schon von weitem hörte der Künstler nun Geschrei. Es klang, wie damals hier im Frühjahr, wenn die Kätzinnen rollig wurden und die Kater auf den Stall- und Schuppendächern ihre erbarmungslosen Kämpfe ausfochten. Unwillkürlich lief er schneller, und mit seinen eiligen Schritten stoben die Bilder der Erinnerung vor ihm auf. Er dachte, dass er sich schon immer allein gefühlt hatte, aber erst in den letzten Jahren hatte er erfahren, was es hieß, Abschied nehmen zu müssen. Solche Worte wie „immer“ und „endgültig“ schlossen sich ihm schmerzlich auf, und er musste begreifen lernen, dass der Tod auch sein Leben einschloss.
Die Schreie wurden immer dringlicher, wie eine Reihe dissonanter Töne aus einer Ziehharmonika, und nun rannte er, die Arme wie lahme Flügel schwenkend.
Als er an den Montagen allein in die Ebene hinuntergegangen und zur Stadt gefahren war, um an den Demonstrationen teilzunehmen und mit den anderen „Wir sind das Volk!“ zu rufen, war die Mutter gestorben. Der Vater brachte sie unter die Erde und versuchte alles weiter zu tun, als sei nichts geschehen. Und als alle dachten, der Tod könnte ihm nichts anhaben, war nach einem Jahr über Nacht auch er für immer gegangen. Nun hatte des Künstlers Frau den Gasthof weitergeführt, ihre Kinder lebten inzwischen in der Ebene und eines gar außer Landes. Aber der Krebs, nach dem er sich gemeldet hatte, fraß sie bald auf, und während der Trauerfeier war der Gasthof – als sollte dem Mann nun auch die letzte Verbindung in die Vergangenheit abgebrochen werden - in Flammen aufgegangen. Der Künstler hatte seine sieben Sachen gepackt und war in das kleine Haus am Ortsende gezogen. Den Gasthof hatte er nicht wieder aufgebaut und trotz guter Angebote nicht verkauft.
Nun tat sich der kleine Platz vor ihm auf, und der Mann stand, abgerannt und keuchend, vor der Ruine des Gasthofes. Halbwüchsige Jungen und Mädchen, wohl auf dem Schulweg, sammelten Steine auf und warfen sie mit Geschrei nach einem Kätzchen, das sich im offenen Dachstuhl an einen schwarzen Balken klammerte, der wie der abgebrochene Hauptmast eines gestrandeten Seglers emporragte.
Als wieder ein Stein getroffen hatte und das Kätzchen, durchgerüttelt und fast abgeworfen, aufschrie, schrie auch der Mann auf. Er rannte hin, fuchtelte mit den Armen, dass die Jungen und Mädchen auseinander sprangen und erst in ein paar Metern Entfernung wieder stehenblieben und ihn erschrocken und dann abweisend ansahen. Sie kannten ihn als stummen Alten, der friedlich seiner Wege ging und für sie ein Überbleibsel aus einer längst vergangenen Zeit war. Und nun redete er, schimpfte und fluchte und seine Hände schlugen in die Luft.
Der Mann, als er sich etwas beruhigt hatte, trat durch die leere Türöffnung, balancierte über den Schutt, hangelte sich die zerfallene Treppe bis zum offenen Dachboden hinauf, schirmte die Augen mit seinen breiten Händen gegen das Sonnenlicht ab und betrachtete das Kätzchen über ihm. Es hatte den Schwanz hochgestellt, den Rücken gekrümmt, und es fauchte ihn an.
Er war überrascht. Das Kätzchen erinnerte ihn an einen Wildkater, der ihn ein entscheidendes Stück seines Lebens begleitet hatte. Damals hatte es im Dorf viele Katzen gegeben, es hatte das „Katzennest“ geheißen. Jetzt gab es hier kaum noch Katzen, aber fast hinter jedem Zaun kläffte ein Hund, ein „Herrenknecht“, wie es früher unter den Dörflern geheißen hatte; Hunde galten damals nur als „unnötige Fresser“.
Der Künstler sah zu