Willst Du mein Freund sein?. Edda Blesgen
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Die Mutter hatte jetzt sehr viel Arbeit mit den Kleinen und keine Zeit mehr, mit ihm zu spielen. Sie war immerzu beschäftigt, sie ahnte nicht einmal wie einsam und unglücklich Martin sich fühlte. Der wuchs und wuchs.
Mit drei Jahren reichte er seinem verblüfften Vater bis zur Schulter, mit vier überragte er diesen um eine ganze Kopfeslänge. Als Fünfjähriger maß er zweimeterfünfzig. An seinem ersten Schultag hatte er eine Länge von drei Metern. Der neue knallgelbe Schulranzen sah auf seinem Rücken winzig klein und lächerlich aus.
Jetzt besucht Martin das zweite Schuljahr und ist fast doppelt so groß wie ein Erwachsener.
Auf seinem Schulweg biegt er von der Uferpromenade in eine der kleinen Nebengassen ab. In den Haustüren stehen schwatzende Hausfrauen. Sie klagen über die hohen Fleischpreise, tratschen über Nachbarinnen, zählen sämtliche Kinderkrankheiten ihrer Sprösslinge auf, doch sobald sie Martin sehen, reden sie über ihn, seine Größe, was für ein Unglück er für seine Eltern sei. Sie sprechen laut und unbekümmert, rufen sich Bemerkungen über die Gasse hinweg zu und der Junge eilt verlegen, mit rotem Kopf, an ihnen vorbei. Da, in der Ferne schrillt die Schulglocke.
„Verflixt, ich komme schon wieder zu spät!“ Martin verlässt sich stets auf seine langen Beine, mit denen er doppelt so große Schritte wie andere Menschen machen kann. Aber dann bummelt er, bis die Straßen von anderen Kindern frei sind und verspätet sich fast täglich. Er beginnt zu laufen. Eins, zwei, drei lange Schritte, schon flitzt er am Postamt vorbei, vier, fünf, sechs, da ist der Andenkenladen, in dem die Sommergäste Postkarten, buntbedruckte Kopftücher und Muschelkästchen kaufen. Die Frauen gaffen staunend hinter ihm her. Noch ein paar weit ausholende Schritte, schon ist der Schulhof erreicht. Martin überquert ihn mit fünf Sprüngen und schlüpft durch das große Tor ins Schulgebäude. Dabei gibt es noch keine Schwierigkeiten, doch als er ins Klassenzimmer tritt, muss er sich tief bücken und trotzdem bums - stößt er mit der Stirn an den Türrahmen. Er reibt sich die schmerzende Stelle – das wird wieder eine Beule geben – und schiebt sich auf seinen Platz in der letzten Reihe.
Wenigstens gehört ihm eine Bank, in die er passt, denn sein Vater ist Schreiner und hat sie und ein Pult für ihn gezimmert. Als alles fertig war, ließen die beiden Möbelstücke sich zwar durch das große Schultor schieben, nicht aber durch die kleinere Klassenzimmertür zwängen. Der Vater musste Bank und Pult im Flur völlig auseinander nehmen, die Teile einzeln ins Klassenzimmer tragen und dort wieder zusammenleimen und schrauben.
„Martin, du kommst schon wieder zu spät“, donnert der Lehrer. Der Junge möchte sich am liebsten hinter dem Rücken seines Vordermannes verkriechen, leider geht das nicht, weil er ihn um ein beachtliches Stück überragt. Er knabbert verlegen an seinen Fingernägeln. Verflixt, das darf er doch auch nicht, die Mutter wird ärgerlich, wenn sie die zerbissenen Ecken sieht.
„Wir wollen doch einmal sehen“, schimpft der Lehrer, „ob du auch mit deinem Verstand sämtliche Mitschüler überragst.“
Der Junge ärgert sich. Wie oft hat er diesen Satz schon hören müssen. „Also, wie viel ist sieben mal acht?“, fragt der Lehrer.
Nun kann Martin das kleine Einmaleins nicht besser und nicht schlechter als die meisten Kinder im zweiten Schuljahr. Doch außer Atem und verärgert wie er ist und verlegen, weil er das schadenfrohe Kichern der Klassenkameraden erwartet, gelingt es ihm unmöglich, die richtige Antwort zu finden.
„Falls du so weitermachst, musst du das zweite Schuljahr wiederholen. Dann sitzt du noch hier, wenn du schon vier Meter oder noch mehr misst. Dein Verstand scheint jedenfalls nicht mitzuwachsen.“
„Riese, Riese“, hört Martin es vor sich tuscheln. „Turmhohes Ungeheuer.“
„Ruhe“, schreit der Lehrer.
„Bohnenstange“, zischt noch schnell jemand von rechts.
Auch der längste Schultag geht einmal vorüber. Martin drückt sich auf dem Schulhof herum, bis keines der anderen Kinder mehr zu sehen ist. Dann schlendert er durch die schmale Gasse. Da, in der Toreinfahrt neben dem Andenkenladen warten sie auf ihn. Seine Klassenkameraden Erik, Robert, Thomas stürzen mit Geheul hervor und auf ihn zu. Sie kneifen ihn in die Beine, johlen, reißen an seiner Jacke.
„Verprügele uns doch“, lacht Thomas. „Du bist so stark, wehre dich endlich!“
Ja, am liebsten würde Martin sie packen, sie hin und her schütteln. Aber er darf es nicht. Die drei wissen es ganz genau. Einmal hat er Thomas geschlagen, das war im ersten Schuljahr, als dieser ihm den Namen ‚Langes Ungeheuer’ gab. O je, ein fürchterliches Donnerwetter folgte. Thomas’ Mutter lief zu Martins Mutter, dann zum Lehrer, zum Rektor. Und alle schimpften. „Wie kannst du großer Lümmel einen so kleinen Jungen verprügeln!“ „Schämst du dich eigentlich nicht?“ „Böse bist du, schlecht und hinterlistig.“
Martin seufzt. Was nützt es, größer und viel stärker als die anderen zu sein, wenn man sich gerade deswegen nicht wehren darf? Was helfen Beine, mit denen man doppelt so schnell wie andere Kinder rennen kann? Wer davonläuft, gilt als Feigling.
„Nun lasst den Langen doch endlich in Ruhe.“
Martin dreht sich verwundert um. Es ist Lukas aus dem fünften Schuljahr. Eigentlich müsste er schon im siebten sein. Er ist zweimal sitzen geblieben. Die anderen sind zu dritt, doch sie wagen nicht, mit Lukas zu raufen. Beim Rechnen hapert es, ebenso beim Lesen, doch Fußball spielen – da macht ihm niemand etwas vor! Wenn er als Stürmer in der Schulmannschaft antritt, ist jedes Spiel schon so gut wie gewonnen. Vor Lukas haben alle Respekt, mit ihm will es sich niemand verscherzen. – Die drei verdrücken sich in eine Nebengasse.
Martin wartet auf Lukas. „Danke“, sagt er, als dieser endlich heran geschlendert ist, „das war nett von dir.“ Die beiden gehen ein Stück nebeneinander her. Martin möchte etwas sagen, traut sich aber nicht. Endlich nimmt er allen Mut zusammen.
„Du, Lukas, darf ich dich etwas fragen?“
„Mach’ es nicht so feierlich, rede schon.“
„Lukas, willst du mein Freund sein?“
Statt einer Antwort grinst Lukas nur herablassend. „Jetzt stelle ich dir mal eine Frage. Warum hast du dich nicht gewehrt? Ich mag nämlich keine Drückeberger!“
„Drückeberger? Meinst du etwa, ich weiche einer Prügelei aus, weil ich Angst davor habe? Da irrst du dich aber gewaltig. Mit den dreien wäre ich spielend fertig geworden. Wenn ich einmal ordentlich zupacke, gibt es gleich blaue Flecken.“
„Na, nun schneide mal nicht auf. Mein Bruder wächst seit zwei Jahren auch ungeheuer – natürlich nicht so wie du. Er ist erbärmlich schlapp. Meine Mutter behauptet, das komme daher, weil er so schrecklich in die Höhe schießt. Wenn es eine Keilerei gibt, steckt er immer Prügel ein. Selbst mit viel Jüngeren wird er nicht fertig. Zum Heulen finde ich das. Schämen muss man sich, einen solchen Bruder zu haben. Wie schwach musst du bei deiner Länge dann erst sein!“
Martin ist empört. „Hier, schau her.“ Am Straßenrand stehen die Mülltonnen, die morgen geleert werden sollen. Zwei von ihnen, fast bis zum Überlaufen voll, nimmt Martin, in jede Hand eine. Er stemmt sie hoch. „Sieh nur“, sagt er schwitzend. Er bekommt keine Antwort und blickt sich um. Lukas, mit einer leeren Konservendose Fußball spielend, jagt die Gasse hinunter.
„Lukas, Lukas, schau doch“, ruft Martin hinter ihm her. Der wendet nicht einmal den Kopf. Die Dose scheppert