Reise nach Russland. Stefan Zweig
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Das gibt der Moskauer Straße (und allen andern in Rußland) einen so eigenartigen und schicksalshaften Ernst, daß ihre Häuser stumm sind und zurückhaltend, eigentlich nur dunkle, hohe, graue Steindämme, zwischen denen die Menschen fluten. Ankündigungen sind selten, selten auch Plakate, und was in roten Schriftzügen breitgerändert über Hallen und Bahnhöfen steht, ruft nicht Raffinements aus, Parfüms und Luxusautomobile, Lebensspielwerk, sondern ist amtliches Aufforderungsplakat der Regierung zur Erhöhung der Produktion, Aufruf, nicht zu Verschwendung, sondern zu Zucht und Zusammenhang. Wieder spürt man hier, wie schon im ersten Augenblick, den entschlossenen Willen, eine Idee zu verteidigen, die ernste, zusammengeballte Energie, streng und stark auch ins Wirtschaftliche gewandt. Sie ist nicht ästhetisch schön, die Straße von Moskau, wie die pointillistisch glitzernden, farbensprühenden, lichtverschwendenden Asphaltbahnen unserer europäischen Städte, aber sie ist lebensvoller, dramatischer und irgendwie schicksalshaft.
Moskau: Blick vom Kreml
Tage hat es gebraucht, bis wir die Verstattung bekamen, durch die immer bewachten Tore dieser uralten Burg emporzuschreiten, wo seit einem halben Jahrtausend die Zaren und nun die neuen Machthaber regieren. Man hat zauberische Kirchen gesehen, mit hell und dunklen wunderbaren Fresken von der Schwelle bis zum Dachrand geschmückt, Prunkgemächer und immer wieder Kathedralen, noch eine und noch eine, die hier dicht und gedrängt aneinander stehen. Man ist durch unzählige Säle geschritten, wo sich Kunstschätze ganzer Geschlechter anhäufen, die Waffen und Werke dieser unübersehbaren Nation. Fast ist es zuviel (immer hat man dieses Gefühl in Rußland, es ist zuviel zu sehen, man brauchte ein Leben, um es zu überschauen); so hält man einen Augenblick inne auf dieser erschöpfend-unerschöpflichen Kunstwanderung und blickt von den Mauern des Kreml auf Moskau, die vielleicht wunderlichste und eigenartigste Stadt der Welt.
Möglicherweise ist es die gleiche Stelle, wo Napoleon einst stand, der große Rasende, der mit sechshunderttausend Mann von Spanien und Frankreich durch Deutschland, durch Polen, durch diese endlose, baumlose, wasserlose Steppe dem Irrlicht des Orients hierher nachzog, der sich unnützerweise von Paris die Oper und die Comédie Française fünfzig Tagereisen weit nachkommen ließ, indes er schon ein gewaltigeres Schauspiel erlebte: eine brennende Stadt zu seinen Füßen. Betäubender, verwirrender Anblick muß es damals gewesen sein, und er ist es noch heute. Ein barbarisches Durcheinander, ein planloses Kunterbunt, von der Neuzeit nur noch pittoresker gemacht: grellrot gestrichene Barockkathedralen neben einem Betonwolkenkratzer, weitläufige schloßhafte Paläste neben schlechtgetünchten Holzhäusern mit grindigem Verputz; zwiebeltürmige, halb byzantinische, halb chinesische Kirchen ducken sich unter die riesenhafte technische Eiffelturmsilhouette der Funkstation, schlecht nachgeahmte Renaissancepalais halten sonderbare Nachbarschaft mit Kaschemmenhütten. Und zwischen all dem, rechts und links und vorn und rückwärts, überall Kirchen, Kirchen, Kirchen, mit ihren heraufgeschraubten Türmen, vierzig mal vierzig, wie die Russen sagen, aber jede anders in Farbe und Formen, ein Jahrmarkt aller Stile, eine zusammengequirlt phantastische Ausstellung aller Bauformen und Kolorite. Nichts paßt zueinander in dieser planlosesten, scheinbar improvisiertesten aller Städte, und gerade diese unablässige Kontrasthaftigkeit macht sie so unerhört überraschend. Man geht hundert Schritt eine Straße entlang und meint, in Europa zu sein, und, kaum um die Ecke, so glaubt man sich schon nach Isfahan verschlagen, in einen Basar, ins Tatarische und Mongolische. Man tritt in eine Kirche, rastet jahrhunderteweit in Byzanz, aber hinauskommend und eintretend in das neue Telegraphengebäude, hat man einen Sprung nach Berlin gemacht. Die verschwenderischen Goldkuppeln einer Kathedrale reflektieren ihren Glanz in den zersplitterten Scheiben wackeliger Holzhäuser gegenüber, aus der Hintertür eines solchen schäbigen Wohnstalles mit schmutzigem Spülicht, gackernden Hühnern und dumpfen Latrinen tritt man in eine Straße, die von elektrischen Bahnen klirrt, und sieht vor sich ein Museum, wo alle Schätze des Abendlandes in verschwenderischer Fülle geordnet ruhen. Nichts paßt zusammen; sie dröhnt und berauscht, diese Stadt, wie eine ungeheure atonale Symphonie, in der sich die verwegensten Dissonanzen, die grellsten Rhythmen gewaltsam mischen. Man wagt nicht, zu behaupten, daß sie einem gefällt, diese sonderbare Stadt, aber sie ist mehr als schön: sie ist unvergeßlich.
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