KNIGGE: Über Eigennutz und Undank. Adolph Freiherr von Knigge
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Vernunft hingegen nützt diese Erfahrungen, ordnet sie
und zieht daraus Vorschriften ab, die seinen Willen
bestimmen und gewisse Entschlüsse für die Folge in ihm
erzeugen.
5.
Diese Entschlüsse nun können sich nicht weiter
erstrecken, als auf solche Fälle, über welche er würklich
Erfahrungen gemacht hat, und er kann nur Vorsätze
fassen, die auf diejenigen Verhältnisse anwendbar sind,
welche er kennt. Da ihn nun seine eigne Existenz jeden
Augenblick seines Lebens am mehrsten beschäftigt und
ihm das Gefühl derselben am lebhaftesten und
beständigsten gegenwärtig ist; so wird die erste Sorgfalt
seiner Vernunft auf Erhaltung und Vervollkommung
seines Daseyns gerichtet seyn und wenn er sich Gesetze
und Pflichten vorschreibt; werden diese gewiß das
Wohlbehagen seines eignen Ichs zum vornehmsten
Augenmerke haben. In dem Maße aber, in dem seine
Bedürfnisse, Erfahrungen und Verhältnisse sich
vervielfältigen, entstehen bey ihm auch neue
Ueberlegungen und Vorsätze, die ihn dann zum Handeln
bestimmen, also neue Pflichten, die er sich auflegt. Je
näher ihm dann das Interesse an irgend einem
Gegenstande liegt, desto wichtiger werden ihm die
Motive seyn, die ihn determiniren, in Rücksicht auf
diesen Gegenstand so und nicht anders zu handeln. Je
weiter entfernt hingegen, desto unwichtiger; Thorheit
würde es ihm seyn, sich Pflichten in Verbindung mit
Gegenständen aufzulegen, mit welchen er in gar keinen
Verhältnissen steht.
6.
Es giebt also nur Ein von der Natur uns eingepflanztes
allgemeines Gesetz, nämlich das: der Vernunft zu folgen.
Die Anwendung hängt von den Erfahrungen und
Verhältnissen ab. Wo diese gänzlich fehlen, da kann keine
Idee von Entschlüssen, die darauf Bezug haben, Statt
finden. Und so wie andre, neue Erfahrungen und
Verhältnisse eintreten, müssen auch die Motive zu den
Handlungen sich verändern.
7.
Ohne Zweck handelt die Vernunft nicht, denn dadurch
unterscheiden sich ja ihre Antriebe von denen, die der
Instinct und das dunkle Gefühl bewürken. Wo also keine
Zwecke sich darstellen, da wird die Vernunft nicht zum
Handeln bestimmt. Deswegen ist alles, was wir Tugend,
Pflicht und Gesetz nennen, nur Resultat der Vernunft,
gezogen aus der Ueberlegung des Zwecks und der
dadurch herbeyzuführenden Folgen, die diese oder jene
Handlung, wie die Erfahrung lehrt, hat und haben wird.
Das heißt mit andern Worten: ein vernünftiges Wesen
wird nur solche Handlungen mit Ueberlegung begehn,
die zu etwas nützen, irgend eine Art von Vortheil
bringen. Je näher ihm, seiner Person, seinem eignen Ich,
dieser Vortheil, dieser Nutzen liegt, desto einfacher und
dringender sind die Bewegungsgründe, denselben zu
befördern.
8.
Hieraus folgt also, daß unsre jetzigen Begriffe von
Tugend und Pflicht gar keine allgemeine, ewige,
unwandelbare Wahrheiten, sondern nach den
verschiedenen Erfahrungen und Verhältnissen auch
verschieden sind und seyn müssen, ja! daß dieselbe
Handlung, unter andern Umständen, gut, gleichgültig
oder sträflich seyn, und daß Ein verständiges Wesen von
gewissen Pflichten die erhabensten Begriffe haben, indeß
das andre sich gar keine Vorstellung davon machen kann
und noch ein andres dasselbe, was jenem Pflicht scheint,
für ein Verbrechen hält. Um davon ein Paar Beyspiele zu
geben; so frage ich: ob wohl ein vernünftiges Geschöpf
einen Begriff von der Tugend der Mäßigkeit haben
würde, wenn ihn nicht die Erfahrung schon gelehrt hätte,
welche nachtheilige Folgen der unmäßige Genuß hat, wie
doppelt schmackhaft uns das vorkommt, was wir eine
Zeit lang entbehrt haben, und welche Freuden man
fühlen kann, wenn man einen Theil seines Genusses
aufgiebt, um die Wünsche und Triebe Andrer zu
befriedigen? Es würde, behaupte ich, ohne diese
Erfahrung gar keinen Begriff von der Tugend der
Mäßigkeit haben; ja; die Mäßigkeit würde für ein solches
Geschöpf keine Tugend seyn; vielmehr müßte das erste
Gesetz in dem Codex seiner Pflichten also lauten: »Es ist
der Vernunft und dem Gefühle gemäß, von allem, was
man erlangen kann, so viel zu nehmen und zu geniessen,
als Appetit und Vermögen verstatten.« Man frage ferner: