Der Ruf aus Kanada. Rudolf Obrea
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Bei ihrer Begegnung an der Hotelbar erkannten Sven und Peter ihren Gast sofort an dessen Aussehen. Wie bei den Einheimischen üblich, trug er noch seine tägliche Arbeitskleidung, bestehend aus einer abgetragenen, grünbraunen Tweetjacke, einer unförmigen grauen Hose und einen bis zum Hals geschlossenen, braunen Pullover Er kam auf sie zu und begrüßte sie offen und aufgeschlossen, indem er beide einzeln nacheinander mit seinen gleichförmigen, grauen Augen ansah. Sein Geschichtsausdruck zeigte eine neugierige Erwartungshaltung und war geprägt von dem schon erwähnten, grauen Vollbart und zwei Längsfalten, die zu beiden Seiten die Mundpartie ergänzten. Er deutete auf die Biergläser der beiden und sagte: „Wie ich sehe, habt ihr euch schon in Bancroft eingelebt“ Erstaunt fragte Peter: „Wieso ist Bier hier etwas Besonderes?“ „Nein, antwortete Dave, aber am Freitagabend eine allgemein verbreitete Unsitte bei den Männern, wenn sie ihren Lohn bekommen haben und sich noch den Mut des Nordens antrinken, bevor sie fürs Wochenende zu ihren Familien in den oft weit abgelegenen Häusern fahren. Besonders im Winter bietet sich ihnen dort außer den Fernsehberichten über die Eishockeyspiele und der Besuch der örtlichen Eis-Arena wenig Abwechslung. Wie gesagt, eine Unsitte, weil dadurch viele dem Alkohol völlig verfallen.“
Sven gab aber trotz dieser nicht gerade ermutigend wirkenden Aussage nicht auf und fragte: „Was können wir dir bestellen?“ Dave lachte und antwortete selbstbewusst: „Ich vertrage schon auch ein Bier nach der Arbeit, trinke aber nicht, um dem Wochenendsyndrom zu entkommen.“ Peter nahm diese Bemerkung auf und erwiderte: „Wie Du weißt, sind wir hier Neulinge. Mit meinen ersten Erfahrungen auf der Baustelle bin ich sehr zufrieden, weil mich meine hiesigen Mitarbeiter mit ihrer praxisbezogenen Einstellung aufgeschlossen und tatkräftig unterstützen. Ich glaube deshalb, dass wir uns auch privat gut einleben werden, wenn wir uns in Bancroft besser auskennen und nicht nur beim Bier versacken.“
Dave fühlte sich zum lokalen Berichterstatter bestimmt, lehnte sich mit einem Arm gemütlich an die Theke und erzählte ihnen die folgende Ortsgeschichte: „Wie die meisten Orte hier, entwickelte sich Bancroft aus einer anfänglichen Holzfällersiedlung. Zum Abtransport des Holzes wurde um 1898 eine Bahnstrecke nach hier gebaut. Sie sorgte dafür, dass der Ort eine geregelte Verbindung zur Außenwelt bekam. Die Anzahl der Einwohner wuchs, nicht zuletzt auch deshalb, weil der anschließende Straßenbau zusätzliche Arbeitskräfte benötigte. Die meisten von ihnen hatten geringe Ansprüche und bauten sich einfache Holzhäuser, die bis heute das Ortsbild prägen. Die erste Entwicklungsperiode endete, als die Wälder hier kein brauchbares Holz mehr lieferten und der Transport aus dem Norden mit Lastwagen erfolgte. Die Bahnstrecke wurde 1975 stillgelegt und der hiesige Bahnhof in ein Museum verwandelt. Armut und Arbeitslosigkeit reduzierten alle Aktivitäten auf ein Minimum, bis erlebnishungrige Touristen die Schönheit der Landschaft mit ihren vielen Seen neu entdeckten. Bancroft bekam eine zweite Chance und entwickelte sich zum Einkaufs- und Servicezentrum für die Sommergäste, die sich hauptsächlich an den Ufern der umliegenden Seen Wochenendhäuser, sogenannte Cottages, bauten, sich bei Fischfang und anderen Wassersportarten erholten und damit auch dem einheimischen Baugewerbe neuen Auftrieb verschafften. Einige dieser Sommergäste, ich gehöre auch dazu, gefiel das Landleben und sie entschlossen sich, beim Erreichen des Rentenalters ihr Cottage zum ständigen Wohnsitz auszubauen. Gleichzeitig versuchten wir mit unseren Beziehungen zu den Provinzbehörden staatliche Gelder zum Bau öffentlicher Einrichtungen zu bekommen. Durch die Organisation von Veranstaltungen, Ausstellungen und anderen Gemeinschaftsprojekten passten wir das auf die einfachen Bedürfnisse ausgerichtete hiesige Dasein unseren von früher her gewohnten Ansprüchen an und verschafften uns auf diese Weise eine unterhaltsame Abwechslung. Die entstandene eigenartige Mischung aus Naturerlebnissen und anregender Geselligkeit bietet uns jetzt eine vielfältige Gestaltungsmöglichkeit, die ich auch deshalb besonders schätze. weil ich mich nicht mehr nach den gesellschaftlichen Zwängen des Großstadtlebens richten muss, sondern mir weitgehend frei und unabhängig meine eigene , von mir bevorzugte Lebensweise aussuchen kann.“
Sven, dem vor Allem Daves abschließende Lagebeschreibung gefiel, antwortete spontan: „Wir Montageleute bevorzugen unsere Tätigkeit auf den Baustellen auch deshalb, weil wir fern von den hierarchischen Strukturen in unseren Firmen selbstständig, ähnlich der von dir erwähnten, freien Gestaltungsmöglichkeit, agieren und den Wert unserer Freiheit dadurch genießen, indem wir am Ende unseres jeweiligen Aufenthaltes ein selbsterarbeitetes, stets klar erkennbares Ergebnis aufweisen müssen. Deine Reaktion auf die Verhältnisse hier in Bancroft entspricht in der Art, wie du sie uns schilderst, weitgehend unserer Lebensauffassung. Ich bin deshalb überzeugt, dass wir, obwohl als Eindringlinge vorläufig noch argwöhnisch beobachtet, trotzdem bald die gemeinsame Grundhaltung erkennen lassen, die unsere Andersartigkeit nicht nur erträglich macht, sondern die bei den jeweiligen Begegnungen auch als eine zusätzliche, unterhaltsamen Bereicherung empfunden wird. Dave überraschte sie, als er sein Glas erhob und ihnen wohlgelaunt zurief: „ Prost auf eine gute Zusammenarbeit! Wie ich euch bereits sagte, verbringe ich Freitagabend nicht an der Bar und ihr müsst mich entschuldigen, wenn ich bereits gehe, weil meine Frau mit dem Abendessen auf mich wartet. Als Entschädigung offeriere ich morgen einen Spaziergang durch Bancroft, um euch die wichtigsten Sehenswürdigkeiten zu zeigen.“ Der Vorschlag wurde gern angenommen. Nach dem Abschied von Dave beglückwünschten sich Peter und Sven zu ihrer offensichtlich gelungenen ersten Annäherung und zwar an eine im Ort bekannte und geschätzte Persönlichkeit, eine Tatsache, die für ihren weiteren Aufenthalt nur nützlich sein konnte.
Das Sword Hotel , in dem Sven und Peter wohnten, befindet sich in der Ortsmitte von Bancroft an der Hastings Street, der langgezogenen, breiten Haupt- und Geschäftsstraße, die die Ansammlung von meist zwei- bis maximal dreistöckigen , kastenartigen Gebäude in zwei Hälften teilt. Zum Süden hin endet die Ansammlung mit einer kleinen Anhöhe, auf der eine aus Granitsteinen gebaute, pseudogotische Kirche samt Rathaus das Wahrzeichen des Ortes sind. Nach Norden hin verlieren sich die Häuser im breiten Tal des York Rivers. Der nahtlose Übergang der Hastings Street in den Highway 62 zeigt an, daß die Zivilisation wieder der endlosen Weite der Naturlandschaft Platz zu machen hat.
Für Dave bot sich die zentrale Lage des Hotels an, dort seine Begleiter am nächsten Vormittag zur versprochenen Ortsbesichtigung abzuholen. Um ihnen zunächst einen Überblick zu bieten, führte er sie auf einen kleinen, nordöstlich gelegenen Hügel zur Aussichtsplattform des „Eagles Nest“. Von dort sahen sie Bancroft in seiner vollen Ausdehnung und vor Allem auch die Vielzahl der sanften, meist langgestreckten, bewaldeten Hügel, die die Laubverfärbung des Herbstes vom dunkelgrün der Nadelwälder bis zur rotgelben Verfärbung der Laubbäume in einen nahezu unnatürlichen Zaubergarten verwandelte. Die in der Sonne glitzernden hier und da eingestreuten Wasserflächen der Seen machten deutlich, warum die Gegend sich zu einem bevorzugten Urlaubsgebiet entwickelt hatte. Dave erwähnte besonders die Region um den Babtiste Lake und den Paudash Lake, beide ca. 15 km von Bancroft entfernt, und empfahl ihnen, sich dort zum nächsten Frühjahr ein Cottage zu mieten. „Wie ihr von hier aus erkennen könnt, ist nicht Bancroft der Hauptanziehungspunkt, sondern der Aufenthalt in der Abgeschiedenheit dieser Naturlandschaft, der auch mich immer wieder begeistert.“ Peter sah ihn mit skeptisch ernstem Blick an und fragte: „Wie kommen wir über den bevorstehenden Winter?“ „Eine berechtigte Frage, wenn viele Attraktionen des Hauptanziehungspunktes Natur sich vor der Kälte in eine Art Winterschlaf zurückziehen. Ich empfehle euch längere Arbeitszeiten zum Ansparen von mehr Freizeit im Sommer, einen ausgedehnten Weihnachtsurlaub, Wochenendausflüge nach Toronto und nicht zu vergessen, die Teilnahme an unserem hiesigen Gesellschaftsleben beim Eishockeyspielen in unserer Arena sowie diversen anderen Veranstaltungen, die sich durch die aktive Mitwirkung der Bevölkerung großer Beliebtheit erfreuen. Neue Interessenten sind bei den schon fest eingebundenen Einheimischen kaum zu gewinnen und deshalb Zuwanderer stets willkommen, somit für die Fremden die beste Möglichkeit, sich in die vorhandene Gemeinschaft zu integrieren. Die von hier aus gut erkennbare Übermacht der natürlichen Gegebenheiten verlangt von