Der Ruf aus Kanada. Rudolf Obrea

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Der Ruf aus Kanada - Rudolf Obrea

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Toronto außer dem vornehmen Hotelkasten nichts zu bieten hat, verschwinde ich bald wieder.“ Zum Glück ließ sich Jim nicht provozieren, sondern sah seinen Beifahrer nur mit einem fragenden Blick über die Brille hinweg kurz an,bevor er mit ruhiger Stimme gelassen antwortete: „Toronto ist groß, Kanada noch größer. Um dir darin etwas zu bieten, müssen wir dich auf Räder stellen, ohne die du hier weder aus- noch weiterkommst. Du besorgst bei Wegener das Geld und ich hier einen günstigen Gebrauchtwagen, den ich auf den Namen der Firma zulasse.“ Sie verwirklichten ihren Plan bereits im Laufe der Woche mit dem Kauf eines der hier üblichen und daher preisgünstigen amerikanischen Straßenkreuzer, dessen lange Motorhaube mit solider Stoßstange und lastwagenähnlichen Rädern diesen Ungetümen eine panzerartige Sicherheit verlieh. Den

      zusätzlichen Aufwand der Firma glichen sie dadurch aus, dass sie Sven mit der Hilfe von Jims Freunden eine günstige Wohnung in Bolton, einem nördlich von Toronto gelegenen Vorort, besorgten.

      Sven kaufte sich einen Lageplan von der nördlichen Umgebung Torontos, packte seine Sachen im Hotel zusammen und fuhr am darauffolgenden Wochenende, jetzt eigenständig, bis zum Ende des Highway 427 und anschließend auf dem Highway 50 North. Hier begleiteten ihn zu beiden Seiten der Straße nur noch gelegentlich einzelne Häuser und Farmen, sodass er mit zunehmender Entfernung langsam unsicher wurde. Er parkte bei einer einsamen, an einer Kreuzung gelegenen Tankstelle und stellte mit Hilfe seines Planes fest, dass er in die gegenüberliegende Abzweigung, der Countryside Drive, zu seiner neuen Wohnungsadresse abbiegen musste. Jim hatte recht. Ohne Auto war Kanada nicht zu erobern.

      Das Haus selbst entdeckte er abseits der Fahrstraße, hinter Büschen und Bäumen versteckt, lediglich am Blechbriefkasten bei der Einfahrt, undeutlich beschriftet mit W.Meissner, dem Namen seines Vermieters. Er fuhr hinein und sah sich mit einem komfortablem Backsteinbungalow konfrontiert, der auf einer kleinen Anhöhe mit vorgelagertem, großzügigen Parkplatz stand. Ein gläserner Vorbau schützte den Eingang. Sven läutete und sah kurze Zeit darauf einen älteren , mittelgroßen Herrn aus der Innentür kommen Bevor er ihm öffnete, erkannte er dessen lässige Kleidung, die im Gegensatz zu dem neugierigen, prüfenden Blick aus den dunklen, durch die buschigen Augenbrauen betonten, dunklen Augen zu stehen schien.

      Da Jim von einem deutschsprechenden Ungarn erzählt hatte, begrüßte Sven ihn mit : „Guten Tag Herr Meissner! Mein Name ist Sven Fahrenholz. Ich bin ihr neuer Mieter.“ Die Miene des so angeredeten erhellte sich, da er gegenüber Fremden aus Deutschland nicht mit Vorurteilen belastet war. „Guten Tag Herr Fahrenholz! Kommen sie herein. Ich stelle ihnen meine Frau vor, damit sie ihnen die Wohnung zeigt.“ Er führte ihn in ein, mit zahlreichen Polstermöbeln und klassizistisch verzierten dunklen Wandschränken ausgestattetes Wohnzimmer, bat ihn dort Platz zu nehmen und kam kurze Zeit später mit seiner Frau zurück. „Ich stelle vor: Herr Fahrenholz, meine Frau Theresa Meissner.“ Klein und zierlich von Gestalt, trat sie vor, lächelte ein wenig mit leicht in den Ecken hoch-gezogenem, spitzen Mund und sagte in einem verbindlich klingendem, geschäftsmäßigen Tonfall: „Guten Tag Herr Fahrenholz! Ich zeige ihnen jetzt die Wohnung. Falls sie ihnen zusagt, besprechen wir anschließend die weiteren Einzelheiten.“ Sven merkte sofort, dass er sich bei dem Herrn des Hauses wohl besser aufgehoben fühlte, und stand deshalb ohne weiteren Kommentar ruckartig auf. Sie ging voraus und führte ihn in ein Souterrain, unterteilt in Wohn- und Schlafzimmer, mit zur Rückseite hin gelegenen Bad und Küche. Die Möblierung bestand vorwiegend aus abgelegten Gegenständen, die aber noch gebrauchsfähig zu sein schienen. Jim beachtete sie kaum, weil ihn die Größe der Räume und vor Allem die Fensterwand mit Ausgang auf die Terrasse und den davor sich ausdehnenden, weiten Garten beeindruckten. Schon bald darauf einigten sie sich auf ein Ergebnis, das Sven auch später nicht bereute, Er hatte sich ein verlässliches Rückzugsgebiet gesichert , aus dem heraus er wohlüberlegte Vorstöße in seine neue, fremde Umgebung planen und gezielt durchführen konnte.

      Zurück in seinen jetzt eigenen vier Wänden, inspizierte Sven zunächst Küche und Bad, bewaffnete sich mit Block und Bleistift und notierte sich die notwendigsten Gebrauchs-gegenstände, hauptsächlich Handtücher, Badeutensilien, Geschirr und Lebensmittel, die ihm fehlten. Anschließend fuhr er zu dem, ebenfalls von Jim empfohlenen Shopping Mall in Mississauga, dessen ungewohnte Größe ihn zunächst völlig verwirrte. Schon das Meer der Autos, das den Mall von allen Seiten umschloss, beängstigte ihn, da er nicht wusste, wie er seinen Wagen in der Menge jemals wiederfinden sollte und keinerlei Eingänge zu erkennen waren. Auf einem in der Nähe stehenden Mast sah er den Buchstaben G befestigt. Seine Zuversicht stärkte sich. Er parkte in der Nähe des Mastes mit der Gewissheit, später wieder an diesen Ort zurückzufinden. Der Strom der anderen Besucher wies ihm den Weg zu einem der Eingänge und dort ein Handzettel zu den verschiedensten, straßenartigen, überdachten Fluchten von Läden und Kaufhäusern aller Art. Bepackt mit zahlreichen Plastiktüten musste er mehrmals zum Auto zurücklaufen, verlor dadurch viel Zeit, kannte sich aber schließlich gut aus und hatte am Abend alles sicher in seinem geräumigen Ungetüm verstaut. Selbst Meissners staunten, während sie ihn beim Ausladen seiner Sachen beobachteten und liehen ihm bereitwillig Bettwäsche und Decken, die er im Schlafzimmer vergessen hatte. Außerdem spendierte Herr Meissner das jetzt wirklich verdiente Willkommensbier, das Sven bei seinen Einkäufen vergeblich gesucht hatte. Dabei tauschten sie ihre Vornamen aus und Wilhelm, jetzt Bill genannt, erklärte seinem Sven, dass er Bier nur im Brewers Retail Store bzw. im Liquor Store kaufen könne. Diese Neuigkeit füllte endgültig die momentane Verarbeitungs-kapazität des Neulings. Erschöpft ging er zurück in seine Wohnung, legte sich ins Bett und schlief sofort ein.

      Am anderen Morgen verordnete sich Sven einen Ruhetag und begann ihn nach dem ausgiebigen Frühstück mit dem Auspacken und Einräumen der gekauften Sachen. Danach lockte ihn die Sonne, die um diese Jahreszeit, Anfang Juni, bereits sehr warme Tage bescherte, auf die Terrasse, wo ihn bequeme Gartenmöbel zum Sitzen einluden. Nachdenklich betrachtete er die sich vor ihm ausbreitentende, flache Landschaft mit großflächigen Äckern und Wiesen. die, wie er später erfuhr, zusammen mit den endlosen Wäldern des Nordens den Großteil Kanadas ausmachte. Lediglich am Horizont zeigte sich die von der Morgensonne beleuchtete Skyline von Torontos Bank- und Bürohochhäusern mit der alles überragenden Spitze des CN- Towers.

      Unwillkürlich erinnerte ihn die nähere Umgebung noch an den Blick von den Elbdeichen auf die verstreuten Bauernhöfe der Marsch Schleswig Holsteins im Norden Hamburgs, die er von Ausflügen in seiner Kindheit her kannte. In Hamburg, seiner Heimatstadt, deuteten allerdings keine Bürotürme auf das Zentrum der Stadt. Der Fernsehturm ragte auch nicht mit einer Höhe von über 500 m aus dem Häusermeer und die Vororte waren dort mit vielen Baumbeständen durchsetzt und hatten erkennbar eigene Zentren, die einen stufenweisen Übergang zum Inneren der Großstadt darstellten. Alles verströmte eine althergebrachte Beständigkeit, die selbst die weltweit anerkannte, hauptsächlich mit dem Hafen verknüpfte Geschäftigkeit in alter Tradition verband.

      Toronto dagegen präsentierte sich ganz im Zeichen des Aufbruchs in eine neue, andersgeartete Welt. Sven sah nicht nur die in der Ferne alles überragende Skyline der Stadt, sondern auch große, vorgelagerte Brachflächen, die sich das Grün der Landschaft als braune, eintönige Gebilde wie eine alles vernichtende Überschwemmung eroberten. Sie gehörten Entwicklungsgesellschaften, (Developers mit Fantasienamen), die auf möglichst engem Raum ein Maximum an Einfamilienhäusern in billiger Standardbauweise als endlose Linien aneinander reihten, um sie gewinnbringend, hauptsächlich an junge Familien und Einwanderer, zu verkaufen. Selbst die in der Nachbarschaft gelegenen Bauernhöfe wurden nur noch teilweise bewirtschaftet, sodass die Felder sich in eine Steppe verwandelten, die oft bereits verkauft und als zukünftiges Bauland ausgewiesen waren. Einem Raubtier gleich fraß sich der scheinbar unersättliche Moloch der Großstadt in das Land hinein, zerstörte jegliche Natur und ersetzte sie durch riesige Ansammlungen von einförmigen Häuserwürfeln, die über meist sechsspurige Highways untereinander und mit der Innenstadt verbunden waren.

      Die Zahl der Einwohner hatte sich auf diese Weise in den letzten zwanzig Jahren von 800 000 auf zweieinhalb Millionen verdreifacht und dabei alle anderen Großstädte Kanadas einschließlich Montreal weit hinter sich gelassen. Toronto verkörperte jetzt, trotz oder wegen

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