Von Jerusalem nach Marrakesch. Ludwig Witzani
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Am nächsten Tag schien eine zaghafte Sonne über Jerusalem. Mein Frühstück nahm ich im Teehaus auf der anderen Straßenseite, ehe ich die Klagemauer besuchte. Ich erreichte einen großen freien Platz im arabischen Viertel, an dessen Stirnseite sich eine streng bewachte Mauer aus großen Quadern befand. Sie war neunzehn Meter hoch und galt als der letzte Überrest des alten Tempelberges. Vor der Mauer standen zahlreiche Besucher und steckten kleine Zettelchen in die Ritzen der Klagemauer. So hatte es auch der israelische General Mosche Dayan gemacht, der 1967 nach der Eroberung Ost-Jerusalems zur Klagemauer gegangen war und einen Zettel mit dem Wort „Schalom“ zwischen die Steinritzen gesteckt hatte. Dieser Wunsch hatte sich nicht erfüllt, im Gegenteil: gerade an der Klagemauer hatten sich in den letzten Jahren immer wieder neue Konflikte entzündet. Mal verlangten radikale Israelis Zutritt zu den moslemischen Moscheen auf dem Tempelberg, mal warfen Moslems Unrat und Dreck von oben auf die jüdischen Besucher der Klagemauer. Aber auch an der Klagemauer selbst flogen die Fetzen. Ich saß gerade erst entspannt auf einer Brüstung und betrachtete die betenden Männer und Frauen, die nach Geschlechtern getrennt vor der Klagemauer standen, als plötzlich ein Trupp jüdischer Frauen unter großem Geschrei in den Männerbezirk eindrang. Keine Geschlechterdiskriminierung an der Klagemauer, das war ihre Forderung. Ehe sich die Frauen versahen, hatten die würdigen alten Herren, die gerade noch inbrünstig vor der Klagmauer mit Jahwe kommuniziert hatten, ihre Krückstöcke ergriffen, um damit umstandslos auf die Frauen einzuprügeln. Geschrei, Getümmel und Gekreische an einem der heiligsten Plätze des Judentums. Erst der Armee, die immer im Umkreis der Klagemauer in Alarmbereitschaft stand, gelang es nach einiger Zeit, die Parteien zu trennen. Unter lautstarkem Protest, mit Stinkefingern und Flüchen mussten die Frauen den Männerbezirk wieder verlassen.
Nach dem Besuch der Klagemauer bestieg ich den Tempelberg. Er war über vier Treppen zu erreichen, und ebendort, wo sich die alten Tempel der Juden befunden hatten, erhob sich nun der große mohammedanische Felsendom. Er wirkte weder mohammedanisch, jüdisch oder christlich, sondern er war ein Gebäude ganz eigner architektonischer Ordnung, eine berauschende Synthese aus byzantinischer und arabischer Formensprache. Ein Oktagon mit zwei Reihen von Trägerblöcken und Säulen umschlossen im Innern des Doms den heiligen Felsen, der einige Meter aus dem Boden ragte. Dieser heilige Felsen war ein Gestein von eminenter religiöser Bedeutung, weil auf ihm nicht nur Abraham und David geopfert haben sollen, sondern auch, weil nach der moslemischen Überlieferung der Prophet Mohammed in der Nacht seines Todes von diesem Felsen aus auf seinem Pferd Buraq gen Himmel geritten sein soll. Ich war fast ein wenig enttäuscht darüber, dass der Islam, diese vornehme Religion der Anschauungsenthaltung, nicht darauf verzichtet hatte, einen vermeintlichen Fußabdruck von Mohammeds Pferd auf dem Felsen zu hinterlassen. Dafür waren die Schönheit der Ornamente und die Farbenpracht der Innenausstattung unbeschreiblich. Die Kuppel hoch über dem Felsen erschien mir für einen Moment tatsächlich wie der Eingang zum Himmel, als ein magisches Licht durch die bunten Glasfenster in die Halle fiel.
Und doch war diese Pracht kein Spiegel der geschichtlichen Wirklichkeit sondern das Element einer großen historischen Manipulation. Als der arabische Kalif Abd el-Malik im Jahre 683 einen Aufstand in Mekka hatte niederschlagen müssen, war die Kaaba zerstört worden. Da die muslimische Weltgemeinde bis zur Wiederrichtung der Kaaba ein neues kultisches Zentrum benötigte, war der Kalif auf die Idee verfallen, Mohammed mit dem Tempelberg in Verbindung zu bringen. Auf diese Weise war, von offizieller Propaganda unterstützt, die Mär von Mohammeds Himmelfahrt vom Tempelberg aus direkt ins Paradies entstanden. Schmälerte diese rückwirkende Neugestaltung der mohammedanischen Überlieferung den Wert des Felsendoms? Natürlich nicht. Er stand als eine der großen Offenbarungen der Kunst ganz für sich, denn die meisten großen Bauwerke der Weltkulturen beruhen auf Vorstellungen aus der geschichtlichen Fantasie.
Das Kidrontal zwischen den Stadtmauer und dem Ölberg ist die wichtigste Adresse der Welt - jedenfalls nach dem Verständnis eines orthodoxen Juden. Es handelte sich um jenen Ort, an dem nach jüdischem Glauben das Jüngste Gericht stattfinden soll – kurz nachdem in Meggido die letzte Schlacht der Weltgeschichte geschlagen worden wäre. Kein Wunder, dass sich die Juden gerne in der Umgebung des Kidrontals begraben ließen. Wenn es soweit war, würden sie sich nur noch aus ihren Gräbern erheben müssen und befänden sich sofort mitten im Geschehen.
Als ich den Berg Zion erkundete, stieß ich auf das Grab König Davids, das als jüdisches Nationalheiligtum wahrscheinlich alles Mögliche beherbergte, nur nicht die sterblichen Überreste des ersten Judenkönigs. Gleich nebenan konnte man ein Gewölbe besichtigen, von dem allen Ernstes behauptet wurde, in ihm hätte das letzte Abendmahl stattgefunden. Am Ende brach ich meinen Rundgang ab, denn es war fast zu viel für einen Tag: das Jüngste Gericht, Davids Grab und das letzte Abendmahl – in Palästina purzelten die Epochen und Bezüge derart durcheinander, dass alles scheinbar Geschichtliche seinen Kontext abstreifte um als Kitsch, Fake oder Streitobjekt gleich in die Gegenwart zu springen. Zu viel Geschichte und Religion an einem einzigen Ort.
Große Hinweistafeln verlangten am Eingang des Stadtteils Mea Shearim von den Besuchern ordentliche Kleidung und zurückhaltendes Betragen. Jeder, der sich nicht daran hielt, musste mit rüden Reaktionen der Anwohner rechnen. Es gab kein Fernsehen, keine Jugendkriminalität, keine Waschmaschinen und Kühlschränke, dafür jede Menge Kaftane, Kohlsuppen und gefillte Fisch. Willkommen in der Parallelgesellschaft der ultraorthodoxen Juden im Jerusalemer Neustadtviertel von Mea Shearim, der Hauptstadt von Bigotterie und Schmarotzertum unter der Tarnkappe weltentrückter Gläubigkeit. Selbstverständlich verweigerten die Ultraorthodoxen von Mea Shearim den Wehrdienst in der israelischen Armee, nahmen aber gerne die Unterstüzungszahlungen des Staates an. Mit ihren knöchellangen schwarzen Mänteln, den gestreiften Kaftanen und den schwarzen Strümpfen wirken die Gestalten, die mir in den Gassen Mea Shearims begegneten, wie Karikaturen aus den osteuropäischen Ghettos der frühen Neuzeit. Die meisten Bewohner von Mea Shearim sprachen jiddisch, weil ihnen das Hebräische heilig war und ihrer Ansicht nach für die kultischen Verrichtungen reserviert bleiben sollte. Das ganze Viertel wirkte ärmlich und bizarr, aber das Befremdlichste, was ich in Mea Shearim zu sehen bekam, waren die Kinder, die mit ihren Schläfenlöckchen zu beiden Seiten ihrer Köpfe wie kleine Teufel aussahen und die den Besuchern frech und selbstbewusst entgegentraten. Trotzdem machte der Sittenverfall auch vor Mea Shearim nicht halt. Ein orthodoxer Jude mit Kaftan und Zottelbart schwankte mit angesäuselt entgegen und lallte: „Gib mihr a Scheeekel“ Ich ging weiter und verstand plötzlich, warum die orthodoxen Juden bei den normalen Israelis so unbeliebt waren, denn es musste sie nerven, in ihrer Gestalt noch immer mit einem Zerrbild der eigenen Identität konfrontiert zu werden.
Einen ganzen Tag lang wandelte ich auf den Spuren der Christuspassion. Mein Cicerone war meine Fantasie, denn allzu viel vom Leidensweg Christi war nicht mehr erhalten geblieben. Um die Wahrheit zu sagen: es war überhaupt nichts Originales zu sehen, sondern nur ein Sammelsurium zweitrangiger Kunstwerke und Orte, deren Authentizität alles andere als gesichert war. Trotzdem fiel jedem Besucher in den engen Gassen der Altstadt die Orientierung leicht, denn die Araber säumten nicht nur mit ihren Shops die gesamte Länge des Weges, sondern versahen ihre Läden dankenswerterweise mit Anspielungen auf den Namen der jeweiligen Passionsstation. An der Station IV „Jesus begegnet seiner Mutter“ konnte sich der Tourist im Andenkenshop „Spasm of Holy Maria“ nach passenden Souvenirs umsehen. Gleich neben der Station VI „Die heilige Veronika trocknet Jesu den Schweiß“ lud der Kaffeeshop „Holy Veronica“ zum Verweilen ein. Überall verlockende Angebote wie „We print one T-Shirts in 10 Seconds“ oder „Buy one Jesus Skulptur and get one Paulus for free.“ Sogar auf der Rückseite des Jesusgrabes kroch ein armenischer Priester herum und bot den Gläubigen „Holy Candles“an.
Insgesamt passierte ich in dieser Weise folgende vierzehn Stationen des Leidesweges:
I | Jesus wird zum Tode verurteilt |
II |
Jesus
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