Familien-Biografik. Rainer Adamaszek

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Familien-Biografik - Rainer Adamaszek

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einander als Stellvertreter von vermissten primär Nächsten auf der Bühne des Lebens dienen, um unbewusst eine vergangene mangelnde Wirkung in Gestalt eines wirksamen Mangels zur Geltung zu bringen.

      Ich widerstehe dem Bedürfnis, hier bereits eine ausführlichere Erläuterung meiner Sätze zu geben und verweise an dieser Stelle nur darauf, dass ich mich in diesem Zusammenhang nicht nur mit den Erfahrungen vieler Therapeuten, nicht zuletzt auch psychoanalytischer Therapeuten, im Einklang sehe, sondern insbesondere mit zwei philosophischen Autoren phänomenologischer Provenienz: mit Emmanuel Lévinas und Bernhard Waldenfels.

      Für Emmanuel Lévinas steht die Thematik jenes „Dritten“ oder „anderen Nächsten“ unter dem Namen „der Andere“ im Zentrum seines gesamten Werkes. (1992 a, 1992 b; 1987) Lévinas untersucht auf begrifflicher Ebene die Unentrinnbarkeit der existenziellen Situation, in der ein jeder Mensch unmittelbar durch die Bedürftigkeit des „Anderen“ angeklagt ist und in der jedes Ich ebendarum prinzipiell im Akkusativ steht und nur als „Sich“ erkennbar wird.

      Bernhard Waldenfels untersucht das Spektrum der für die „Lebenswelt“ charakteristischen Phänomene unter dem Aspekt des Wirkens dramatischer Kraftfelder zwischen den Menschen. Dabei versteht er den Begriff „Feld“ in gestalttheoretischer Tradition folgendermaßen: Es sei „ein innerlich gegliederter, flexibel nach außen abgegrenzter Erfahrungsbereich, dessen Grenz- und Kraftlinien auf wechselnde Standorte innerhalb des Bereichs zulaufen“. Verwandt damit seien „Konzepte wie Szene, Bühne oder Schauplatz (Pollitzer in Anlehnung an Freud), Rahmen (Gofman) oder sozialer Raum (Bourdieu)“. Die Rede von Szenen oder Szenerien, so Waldenfels weiter, habe „den glücklichen Effekt, dass hier das gesamte Umfeld des Geschehens, die Plätze von Spielern..., das Zubehör, die Kulisse und auch die Begrenzung des Schauplatzes mitbezeichnet werden“. Das Entscheidende einer dramaturgischen Handlung, die sich an solchen Plätzen abspielt sei „nicht die Darstellung, in der man sich selber in Szene setzt, sondern die Aufführung des Dramas selber, das nicht geradewegs auf Zuschauer angewiesen ist (Pollitzer).“ (Waldenfels, 1987, 54 ff)

      Was ich versuchsweise als „semantisches Feld“ erster Ordnung bezeichnet habe, ist nichts anderes als eine auf die Beziehung zwischen Eltern und Kind verschobene Chance zur realitätsgerechten Wahrnehmung jener Verantwortlichkeit, die in der Beziehung zwischen den Eltern und den Großeltern nicht wahrgenommen worden ist, das heißt die im Leben von Nachfahren gewahrte Chance auf Wiedereröffnung eines Weges zum freien Strömen der Liebe. Und das „semantische Feld“ zweiter Ordnung, das sich aus dem „semantischen Feld“ erster Ordnung abzuleiten scheint, ist ebenfalls als bloße Verschiebung von bereits Aufgeschobenem zu verstehen. Letztlich muss demnach das „semantische Feld“ dritter Ordnung, das bereits dem synchronen Wirken der Nähe zwischen Eltern und Kind zugrunde liegt, als weitere Bestätigung des im Grunde wirksamen Prinzips angenommen werden.

      Die obige Einteilung der Felder nach drei Stufen gäbe also lediglich eine heuristisch interessante Hierarchisierung von Erkenntnisebenen für die Beobachtung und Analyse von Zusammenhängen wieder, nicht unbedingt die wirkliche Hierarchie gestaltender Kräfte, vor allem nicht die Hierarchie der wirksamen Bedürftigkeiten in Gruppen von Menschen. Anders gesagt: Die Kraft, die die Wirkungen erster und zweiter Ordnung zustande bringt, beruht auf dem Ausschluss eines Dritten. Sie entspricht der Wahrung des Gesetzes, das die Folgen dieses Ausschlusses vorsieht bzw. als Folge des Ausschlusses unmittelbar herbeiführt. Erst unter Beachtung dieses zugrundeliegenden bzw. den Grund legenden Gesetzes allerdings kann der Ausgeschlossene in den Phänomenen des Geschehens überhaupt in den Blick geraten. Was nicht Fakt geworden ist, in seinem Gewicht für die Faktizität zu bemerken, ist das Problem, um das es mir geht. Dies Problem zu lösen, ist meines Erachtens für die Zukunft der Heilkunde wegweisend. Es setzt allerdings eine Perspektive voraus, aus der die „semantischen Felder“ insgesamt in all ihren drei möglichen Ordnungen überblickt werden können. Und meines Erachtens ist allein die Phänomenologie methodisch imstande, diese Perspektive einzunehmen, aus der Verantwortlichkeit und Verantwortung unterschieden werden können.

      Wenn Rupert Sheldrake (1988, 158) im Zusammenhang mit seiner Theorie der „morphischen Felder“ von „Wahrscheinlichkeitsstrukturen“ spricht, dann verzichtet er auf den Blick für das im menschlichen Leben Wesentliche. Es tauchen bei ihm zwar Analogien zur Problematik der Verantwortlichkeit auf, aber es handelt sich dabei eben nur um Analogien, nicht um Analysen. Darum wäre zu ergänzen: Wenn das von mir so genannte „semantische Feld“ in seiner ersten und zweiten Ordnung zunächst ja nur beobachtet wird, dann scheint die Wahrheit der Verantwortung durch die Phänomene bloß hindurch und bleibt noch weitgehend unkonturiert. Wirklich erfasst werden kann, was die Wahrheit dieser „Felder“ ausmacht, erst dann, wenn sie ihrer dritten Ordnung gemäß untersucht werden. Dazu ist die genaue Betrachtung der zeitlichen und räumlichen Verhältnisse zwischen den beteiligten Personen erforderlich, und zwar nicht nur das Verhältnis zwischen den Anwesenden, sondern vor allem das Verhältnis der jeweils Anwesenden zu den Abwesenden. Um dies nun doch wenigstens in ersten Ansätzen zu demonstrieren, habe ich zunächst die drei folgenden Fallbeispiele gewählt.

      2.4 Drei schicksalhafte Einbrüche im Leben

      Beinbruch

      Das nächste Beispiel steht für die Erfahrung, dass es nicht allein um endogen hervorgebrachte Symptome und Erkrankungen geht, sondern um eine das Innere sowie das Äußere umfassende Dynamik, an deren aktuellem Zustandekommen auch andere Personen beteiligt sind. Infrage kommen dabei vor allem Personen aus derselben Familie, aber durchaus auch Fremde:

      Ein junger Mann, der mich in einer Entwicklungskrise aufsuchte und über dessen Geschichte ich, abgesehen von seinen psychischen Beschwerden, noch nichts erfahren hatte, kam zur zweiten Sitzung. Er hatte sich, meinem Wunsch entsprechend, mit den Eckdaten der Familiengeschichte präpariert. Diesmal fiel mir bei seinem Eintreten auf, dass er nicht gleichmäßig ging. Mir war sein Gangbild beim ersten Besuch nicht ungewöhnlich vorgekommen. Jetzt fragte ich nach dem Grund. Er berichtete, dass er vor über 8 Wochen eine Schienbeinfraktur erlitten habe, die ihm manchmal noch Schmerzen bereite. Ich teilte ihm mit, dass der Bruch nach meiner Erfahrung eine Bedeutung habe, die sich aufklären würde, wenn wir unsere Arbeit fortsetzten. Zuvor wollte ich ihm aber schon in allgemeiner Form ankündigen, was wir herausfinden würden: Da es das rechte Bein sei, das er sich gebrochen habe, sähe ich mich zu der Annahme veranlasst, dass seine Standfestigkeit durch einen schweren Einbruch in der väterlichen Linie seiner Familie Schaden gelitten habe. Ich füge hier eine Bemerkung ein: Nach meinen Erfahrungen ist die rechte Körperhälfte eines Menschen in einem grundlegenden Sinne auf seinen Vater bezogen. Diese Erkenntnis drängt sich jedem auf, der die Symptome radikal als Symbole für die „Eigentümlichkeit“, d.h. leibhaftige Bezogenheit, eines Menschen aufzufassen bereit ist. Die Auffassung selbst mag ungewohnt, esoterisch oder gar befremdlich erscheinen. Dem Befremden liegt aber eine halbherzige, ängstliche Haltung gegenüber der Empirie als dem ersten Prinzip aller Wissenschaft zugrunde. Denn es handelt sich hier tatsächlich um Alltagserfahrungen, die jedermann machen kann und beständig macht.

      Als ich meinen Patienten dann ohne Umschweife nach den Lebensdaten seines Großvaters väterlicherseits fragte, erfuhr ich, dass dieser mit 29 Jahren im Zweiten Weltkrieg gefallen sei. Der Vater des Patienten war damals zwei Jahre alt. Der Patient war zum Zeitpunkt des Schienbeinbruchs 29 Jahre alt. Und nun war er verblüfft, als er erkannte, dass ich ihm im Grunde genau einen derartigen Zusammenhang als wirksamen angekündigt hatte.

      Bei genauer Betrachtung des Genogramms (Abb. 2.3) zeigt sich, dass die Ehe des Vaters nach fünf Jahren zerbrach, also genauso lang währte wie die Ehe des Großvaters, dass aber diesmal die Frau die Trennung nicht erlitten, sondern aktiv vollzogen hat. Und die Trennung erfolgte nicht, weil der Mann starb, sondern weil er sein Leben in einer außerehelichen Tochter verdoppelt hat, indem er diese zeugte. Als er aber diese Tochter zeugte, verwirklichte er damit einen unerfüllten Wunsch seiner Mutter. Diese hätte gern mit ihrem Mann neben dem Sohn noch eine Tochter gehabt, was aber infolge des Krieges nicht möglich war. Ihr Sohn also vollbrachte dies unvollendete Werk mit seiner zweiten Frau:

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