Der asiatische Archipel. Ludwig Witzani
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Niemals wäre der Buddhismus zur Weltreligion Asiens geworden, hätte er sich nicht ein gutes halbes Jahrtausend nach seiner Entstehung tiefgreifend verändert. Ein neuer, reformierter Buddhismus entstand, der im Verlauf mehrerer großer buddhistischer Konzile in den ersten Jahrhunderten der Zeitrechnung seine definitiven Formen erhielt. Dieser neue Buddhismus basierte auf einer Neubestimmung der erhabenen Seele. Ihre Erhabenheit zeichnete sich nicht mehr durch das Streben nach der eigenen Erlösung aus, sondern dadurch, dass sie am Rande des Nirwanas auf ihr eigenes Verlöschen freiwillig verzichtete, um als hilfreicher und gnädiger Geist, als „Bodhisattwa“, die einfachen Menschen in ihrem tätigen Leben zu unterstützen. Es dauerte nicht lange bis diese "Bodhisattwas", verstanden als gottähnliche, mitleidende und gnadenreiche Wesen, in großer Zahl den ursprünglich völlig gott-losen buddhistischen Kosmos bevölkerten. Wo im älteren Buddhismus nichts gewesen war als die Sehnsucht der müden Seelen nach dem Nichts, entstanden nun Myriaden hilfreicher Geister, deren Existenz nach Darstellung und Verherrlichung in allen Bereichen der Kunst verlangte.
Diesen neuen, „jüngeren“ Buddhismus, der die Erlösung von viel mehr Menschen als früher verhieß, bezeichnete man als „Mahayana“, als das „große Fahrzeug“, im Unterschied zum „Hinayana“, dem „kleinen Fahrzeug“ des ursprünglichen Buddhismus. Dass dieser neue Buddhismus Millionen guter Götter und Geister alle älteren Ahnenkulte frisch missionierter Völker mühelos in sich aufnehmen konnte, verstand sich von selbst.
Der Borobodur ist das steingewordene Mandala des javanischen Mahayana-Buddhismus. Er wurde als eine Prozessionsstraße konzipiert, auf der der Gläubige den zahllosen Buddhas und Bodhisattwas begegnen konnte, die ihn auf dem Weg zur Ebene der formlosen Erkenntnis begleiteten. Diese Prozessionsstraße versinnbildlichte die schrittweise Höherentwicklung des Menschen vom Stofflichen über das Geistige zum absoluten Nichts. Wenigstens diese allgemeine Richtung hatte der Mahayana- Buddhismus mit dem Hinayana-Buddhismus gemeinsam.
Inzwischen war der späte Nachmittag angebrochen. Die Anlage wurde immer voller, und es war kaum noch möglich, irgendeine Statue ohne vorbeigehende Touristen in Ruhe zu betrachten. Die meisten Besucher waren moslemische Javaner, sie wurden begleitet von ihren verschleierten Frauen, die gerne vor der einen oder anderen Buddha-Skulptur posierten. Das mochte zunächst überraschen, denn streng genommen verkörperte der Buddhismus, gleich ob in der älteren oder der jüngeren Form, für einen Moslem den Inbegriff des Heidentums. Tatsächlich hatte der Islam, wo immer er in den Jahrhunderten seiner Expansion Fuß gefasst hatte, den Buddhismus mit Stumpf und Stiel ausgerottet. In Nordpakistan, in Bengalen und in Kaschmir war nach dem Sieg des Islam nichts vom Buddhismus übriggeblieben, und noch vor kurzem hatten islamistische Terroristen die große Buddha-Statue von Bamyan in Afghanistan in die Luft gesprengt.
In Indonesien war der offizielle Umgang mit den vorislamischen Überresten ein anderer. Seitdem der Borobodur zum Anschlagsziel für islamistische Terroristen geworden war, hatte man militärische Kontrollposten rund um das Bauwerk eingerichtet, von denen aus der Besucherstrom genau beobachtet werden konnte. Als sich Rike eine Zigarette anstecken wollte, wurde sie von den Wachtposten scharf zurechtgewiesen. War der Buddhismus auf Java auch untergegangen, schuldete man ihm doch noch Respekt.
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Im Ursprung war der indische Tempel nichts weiter als ein fensterloser Raum gewesen. In seinem Innern hatte sich die Götterstatue befunden, die nur von den Brahmanen gesehen werden durfte. Die Gläubigen mussten draußen bleiben. Die weitere Entwicklung führte zu quadratischen Steingebäuden, wie wir sie auf dem Dieng Plateau gesehen hatten. Im nächsten Schritt entstand ein überdachter Vorraum, in dem sich die Gläubigen versammeln konnten. Dann begann der eigentliche Tempelkorpus, der Raum, in dem das Götterbildnis aufgestellt war, zu wachsen. Aus einem quadratischen Raum entwickelte sich ein sich parabelförmig nach oben verengender Turm, die sogenannte Sikhara. Sie repräsentierte im Glauben der Hindus den Weltberg Meru, den Sitz der Götter im Himalaja. Auch die Basis dieses Turms, die Cella, veränderte sich. Aus ihr entstand die „Grabhagriha“, die Kammer des Allerheiligsten, zu dem außer den Brahmanen noch immer niemand Zutritt hatte. Als schließlich Vorhalle und Sikhara auf ein Podest gestellt und zu einer baulichen Einheit zusammengefasst wurden, war die architektonische Genese abgeschlossen.
Es spricht für die Enge der kulturellen Verbindung von Indien und Java, dass dieser gerade erst im indischen Orissa vollendete Tempeltyp schon im zehnten Jahrhundert auch in Java Platz griff – und zwar in einer geradezu monumentalen Form, die die meisten zeitgenössischen Tempelbauten im Mutterland in den Schatten stellte. Die Rede ist vom Prambanan, einem der größten Tempel der hinduistischen Welt knapp zwanzig Kilometer östlich von Yogjakarta.
Unwillkürlich blieben wir stehen, als wir den Prambanan zum ersten Mal erblickten. Vor uns erstreckte sich eine riesenhafte Tempelanlage von einhundertfünfzig Metern Seitenläge, auf deren Basis sich drei Sikharas, drei gewaltige Tempeltürme, erhoben. Die Natur, die alles um uns herum zum Blühen brachte, schien ihre Vollendung in den drei steinernen Riesengewächsen zu finden, die vor uns in den Himmel ragten. Über vier Eingänge, die entsprechend der Himmelsrichtungen angeordnet waren, passierten wir die Ringmauern und stießen auf die Überreste von weit über hundert kleinen Tempelbauten, von denen man annahm, dass es sich um Mönchsgräber gehandelt hatte. Über Ihnen, auf einer erhöhten Terrasse, erhoben sich die drei Haupttempel von Brahma, Shiva und Vishnu, von denen der mittlere, der Shivatempel, der Größte war. Folgte man der Schulbuchweisheit der Religionsbücher, dann repräsentierten diese drei Göttergestalten die oberste hinduistischen Dreieinigkeit, die Prinzipien der Schöpfung (Brahma), der Erhaltung (Vishnu) und der Zerstörung (Shiva). Schaute man etwas genauer hin, erkannte man im Hinduismus eine bipolare Hochreligion mit Vishnu und Shiva als herausragenden Götterfiguren, während Brahma eigentlich nur ein abstraktes und selbst in Indien kaum verehrtes Prinzip darstellte. In dieser Doppelreligion repräsentierte Vishnu die etwas vornehmere Göttergestalt, die in ihren unterschiedlichen Inkarnationen die Welt bereits neunmal gerettet hatte, ehe sie in der noch bevorstehenden zehnten Inkarnation die Welt für alle Zeiten erlösen würde. Shiva, der in Indien als Tänzer, Ganj-Raucher, Zerschmetterter und Schöpfer verehrt wird, ist demgegenüber die wildere, menschennähere Figur, die vielleicht gerade deswegen eine noch höhere Verehrung als Vishnu genießt. Dementsprechend war auch in der Tempelanlage vom Prambanan Shiva der mit 46 Metern Höhe größte und herausragendste Tempel gewidmet.
Ebenso wie der Borobodur waren die Ringmauern und Außenwände der Bauwerke mit zahllosen Skulpturen geschmückt – man erkannte Szenen aus dem Ramayana, thronende Götter, Tänzerinnen, Blumenmotive und immer wieder Löwenköpfe, die den Betrachtern aus winzigen Nischen anzublicken schienen. Den drei großen Tempeln des Shiva, Brahma und Vishnu standen drei kleinere gegenüber, die ihren Reittieren gewidmet waren, doch nur der Tempel des Nandis, Shivas Stier, war erhalten geblieben. Rechts und links der Treppe, die zum Eingang des Shivatempels emporführte, befanden sich glockenförmige Gebilde, die buddhistischen Stupen ähnelten, ohne dass man genau wusste, ob sich hier eine Vermischung von Hinduismus und Buddhismus andeutete.
Der Prambanan, benannt nach einem benachbarten Dorf, war nur wenige Jahre nach der Vollendung des Borobodur am Anfang des 10. Jahrhunderts von der hinduistischen Mataram Dynastie errichtet worden. Shivas Schatten lag damals über Java, und er sollte sich als so umfassend erweisen, dass er selbst den Mahayana Buddhismus in sich aufnehmen konnte. Die hinduistische Gegenreformation, der es im 8. und 9. Jahrhundert im indischen Mutterland gelungen war, den Mahayana-Buddhismus fast vollständig in sich aufzusaugen, hatte auch in Java über den Buddhismus obsiegt.
Mit der Vermischung der Religionen ist es ein merkwürdiges Ding. Meist vollzieht sich die Verdrängung der einen durch