Spiel des Zufalls. Joseph Conrad
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Spiel des Zufalls - Joseph Conrad страница 13
Was mich nämlich so ganz außer mir brachte, war sein Gehtempo. Verschiedene Meinungen über politische, ethische, auch ästhetische Fragen brauchen noch keine grundsätzliche Gegnerschaft zu schaffen. Man kann seine Meinungen ändern; auch seinen Geschmack. -- Es geschieht ja auch oft genug. Sogar der Tugendbegriff jedes einzelnen unter uns ist einer besonderen Versuchung preisgegeben, die der Zufall uns eines Tages bescheren kann. Alle diese Dinge sind ständig im Fluß. -- Ein Unterschied im Temperament aber ist die Basis des Hasses, denn das Temperament ändert sich nicht. Darum sind auch religiöse Zwistigkeiten so erbittert. -- Mein Temperament nun verlangt in allem, was mit dem festen Lande zusammenhängt, gemächliche Bewegung und Muße. Und da war also der kleine Fyne, der in geradezu aufreizender Art auf der Straße vorwärtsstürmte. Ein Mann, der sich die dicksohligen Schnürschuhe erwählt hatte, während mein Temperament dünne, ganz leichte Schuhe verlangt. Natürlich konnte von Freundschaft zwischen uns nie die Rede sein. Unter dem steten Zwang aber, mit ihm Schritt zu halten, begann ich ihn tatsächlich zu hassen. Ich bat ihn höhnisch, mir zu sagen, ob wir in einer Posse oder in einem Trauerspiel mitspielten. Ich wünschte, so sagte ich, meine Gefühle danach einzurichten, die sich in einem Zustand bedauerlicher Verwirrung befänden.
Doch Fyne war für Hohn unempfänglich wie eine Schildkröte. Er trottete weiter und begnügte sich damit, zweimal aus tiefster Brust, abgerissen, zweifelsschwer vor sich hin zu sagen: ›Ich fürchte ... ich fürchte ...‹
Das klang tragisch. Das Aufknallen seiner dicksohligen Schuhe war der einzige Laut in der nächtigen Welt. Meine Schritte klangen daneben geisterhaft leise. Infolge einer merkwürdigen Sehtäuschung schien die Straße bergauf zu führen, ein paar scheinbar ganz nahen, niedrigen Sternen zu; im Maße aber, wie wir vorwärtskamen, wuchsen immer neue Streifen grauweißen Bandes aus dem Schoße der Dunkelheit. Im Vorübergehen stellte ich fest, daß die Lampe in meinem Wohnzimmer immer noch brannte. Doch brachte ich es nicht fertig, Fyne zu verlassen, um sie auszulöschen. Sein sportliches Vorwärtsdrängen teilte sich mir mit und riß mich in seinem Kielwasser mit fort, bevor ich zu einem Entschluß kommen konnte.
›Sagen Sie, Fyne,‹ rief ich, ›Sie glauben nicht, daß das Mädel verrückt war, oder?‹
Er antwortete nicht. Kurz darauf kam das Leuchtfeuer des Villafensters in Sicht. Da äußerte Fyne ein überzeugtes ›Gewiß nicht!‹, fügte aber fast augenblicklich hinzu: ›Sehr überspannte junge Person!‹ und stellte mich damit vor neue Zweifel. Also doch eine Tragödie?
›Niemand ist je um sechs Uhr früh aufgestanden, um Selbstmord zu begehen‹, warf ich trocken hin. ›Das wäre unerhört! Es ist eine Posse!‹
Ich will dir gleich sagen, daß es tatsächlich weder eine Posse noch eine Tragödie war.
Als wir an der Villa angekommen waren, sahen wir Frau Fyne immer noch mit gefalteten Armen im Lichtkegel der Tischlampe sitzen. Sie machte den Eindruck, als hätte sie während unserer Abwesenheit den Kopf auch nicht um einen Zoll gerührt. Es wirkte verblüffend unangenehm. Warum unangenehm? -- Ich weiß nicht, vielleicht weil ich sie gerade in so grellem Lichte sah. Das meine ich wörtlich. -- Im Lichte einer unbeschirmten Lampe. Unsere gedanklichen Schlüsse hängen so sehr von augenblicklichen körperlichen Eindrücken ab, nicht wahr? Hätte die Lampe einen Schirm gehabt, dann hätte ich vielleicht höflich den Fynes mein Beileid zu dem unerfreulichen Vorfall ausgesprochen und wäre nach Hause gegangen.
Es ist unerfreulich, eine junge Freundin auf solche Art zu verlieren. Es ist auch geheimnisvoll. So geheimnisvoll, daß es sogar noch auf die Leute abfärbt, denen es geschieht. Überdies hatte ich die Fynes nie richtig verstanden; ihn mit seiner Feierlichkeit, die sich noch in der Art äußerte, wie er Butterbrot aß; sie mit der entschlossenen Sachlichkeit, die sie dem alltäglichen Ablauf ihres reizlosen Lebens entgegenbrachte, dieses Lebens, in dem das Abschneiden von Butterbroten weitaus die gefährlichste Verrichtung darstellte. Manchmal vergnügte ich mich in dem Gedanken, wie überwältigend sich doch in ihren Köpfen diese unsere Welt darstellen müsse, und wie schauerlich tiefgründige und verzweifelte Vorstellungen sie wohl damit verbänden. Ich versuchte mir auch auszumalen, welche Stürme wohl dadurch in den unergründlichen Tiefen ihres Lebens entfesselt werden mochten. Das letztere war für einen oberflächlichen Menschen wie mich (denn sicherlich galt ich den Fynes als oberflächlicher Mensch) recht schwierig, und auch das Vergnügen dabei war nicht sehr groß; doch immerhin -- auf dem Lande -- weitab von jeder geistigen Anregung! ...
Als ich aber mit Fyne in das Zimmer getreten war, da erschien mir im biederen, häuslichen Lichte der Lampe, jeder Phantasie abhold, das Ehepaar aller der Märchengewänder entkleidet, die ich ihm insgeheim oft umgetan hatte. Seltsam genug waren sie ja. Doch gibt es ein menschliches Wesen, das nicht -- mehr oder weniger im Geheimen -- seltsam wäre? Was aber auch ihr Geheimnis sein mochte, so stand es doch für mich fest, daß es weder sonderlich zart noch tiefgründig sein konnte. Sie waren gute, dumme, ernsthafte Menschen und sehr besorgt. Das waren sie -- in der unbeherrschten Art, wie sie Durchschnittsmenschen eigen ist. Es gab kein Fleckchen in ihnen, das das Lampenlicht zu scheuen gehabt hätte.
Sofort nach unserem Eintritt gab Fyne das Ergebnis bekannt, indem er im gleichen Tone wie am Zauntor, nach der Rückkehr vom Bahnhof, das Wort ›Nichts‹ aussprach. Und Frau Fyne gab ihr abschließendes ›Es ist, wie ich dir sagte‹ zurück, das wie das Echo ihrer Worte im Garten klang. Wir Drei sahen einander an, als erwarteten wir eine Erleuchtung. Ich weiß nicht, ob die Frau meine Anwesenheit mißbilligte. Von Zudringlichkeit konnte nicht gut die Rede sein. Wie denn auch? Der kleine Fyne hatte damit angefangen, so ging es weiter. Wir standen vor ihr, mit dem gleichen Schmutz bedeckt (Fyne sah fabelhaft aus), von den gleichen Dornen zerkratzt, mit dem gleichen Erlebnis hinter uns. Jawohl. Vor ihr. Und sie sah uns mit gekreuzten Armen an, übervoll von angenommener Richterwürde. Ich wagte es, sie anzureden.
›Sie glauben nicht an einen Unfall, Frau Fyne, oder doch?‹
Sie schüttelte mit kurzer Verneinung den Kopf, während Fyne, lehmüberkrustet und mit unerhört ernsthafter Miene, ihr mit dem ganzen Gewicht seiner feierlichen Gegenwart Rückhalt zu bieten schien. Man konnte sich nichts Unsinnigeres vorstellen. Es war köstlich! Und ich sprach ehrerbietig weiter: ›Darf ich daraus schließen, daß Sie einen Selbstmord anzunehmen wünschen?‹
Es ist mir nicht bekannt, daß ich etwa zu Wahnvorstellungen neige, und doch stand mir, während ich auf ihre Antwort wartete, plötzlich mit erschreckender Deutlichkeit das Bild dreier abgerichteter Hunde vor Augen, die auf den Hinterbeinen tanzten. Ich weiß nicht warum. Vielleicht infolge der übermäßigen Feierlichkeit. Es gibt nichts Feierlicheres auf Erden, als den Tanz dressierter Hunde.
›Sie hat es für richtig befunden zu verschwinden, das ist alles.‹
Mit diesen Worten antwortete mir Frau Fyne. Der gereizte Ton war zuviel für meine Beherrschung. Im Augenblick fand ich mich außerhalb des Reigens, auf allen Vieren sozusagen, frei zu bellen und zu beißen.
›Den Teufel hat sie‹, rief ich. ›Hat es für richtig befunden ... Ganz einfach, so ohne weiteres, rücksichtslos, irgendwohin ... Ich habe den Vorzug gehabt, mit der waghalsigen und schroffen jungen Dame zusammenzutreffen, und muß sagen, daß sie mir mit ihrer Art eines gereizten Opfers ...‹
›Ganz genau so‹, sagte Frau Fyne unerwartet, als schnappte ein Fangeisen ein. Ich starrte sie an. Wie aufreizend sie war! So fuhr ich in meiner Tirade fort: ›Sie kam mir gleich im ersten Augenblick wie das unüberlegteste, verdrehteste junge Mädel