Spiel des Zufalls. Joseph Conrad
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»Was wollen Sie nur damit sagen? Ein Zwischenfall -- mit Namen -- Fyne«, wiederholte er und setzte nach jedem Wort mit Nachdruck ab.
Marlow verzog keine Miene. --
»Ich meine nicht Zwischenfall im Sinne von Unfall. Durchaus nicht. -- Fyne war ein guter, kleiner Kerl im Staatsdienst. -- Unter einem Zwischenfall verstehe ich etwas, das unvorhergesehen und ohne erdenklichen Zweck geschieht. Auf diese Weise gerät meistens ein Schwager in das Leben eines Mannes.«
Da Marlows Ton entschuldigend klang und da sich unser Freund wieder zum Fenster gewandt hatte, nahm ich es auf mich, zu sagen: »Du bist gerechtfertigt. Es ist sehr wenig Vorbedacht in den meisten Ehen; aber sie sind deswegen auch nicht schlimmer. Die Berechnung führt den Menschen oft ebenso in die Irre wie die Leidenschaft. Ich weiß, daß du kein Zyniker bist.«
Marlow lächelte sein nachdenkliches Lächeln, das so freundlich war, als könne er keine Bitterkeit gegen Menschen aufbringen, die er einst gekannt.
»Die Ehe des kleinen Fyne schien recht glücklich. Es war keinerlei Berechnung dabei. Fyne, müssen Sie wissen, war ein leidenschaftlicher Freund des Fußwanderns. Er verbrachte all seine Freizeit damit, unsere Heimat kreuz und quer zu durchziehen. Seine Neigungen waren recht einfach. Er brachte unendlich viel Überzeugung und Ausdauer für seine Ferientage mit. Zur rechten Jahreszeit konnte man stets Fyne in den Feldern treffen, mit Richtung auf irgendeinen Kirchturm; ein kräftig gebauter kleiner Mann mit ernstem Gesicht, einen schäbigen Rucksack aufgeschnallt. Er hatte einen wahren Abscheu vor Landstraßen und schrieb einst ein kleines Bändchen, ›Des Wanderers Handbuch‹ genannt; seither galt er als Sachverständiger für die Fußwege Englands. So kam er eines Tages in seiner bekannten Art, als Hinterwäldler und Einzelgänger, in ein hübsches Surreydorf, wo ihm Miß Anthony begegnete. Reiner Zufall, wie Sie sehen. Ihre Herzen fanden sich, wahrscheinlich über irgendeinen Wiesenzaun weg. Der kleine Fyne hatte sehr ausgeprägte Ansichten über die Bestimmung der Frau in dieser Welt, über das Wesen unserer irdischen Liebe, über die Verpflichtungen, die dieses vergängliche Leben mit sich bringt, und so fort. Er wird sie seiner zukünftigen Frau wohl dargelegt haben. Fräulein Anthonys Lebensanschauungen standen gleichfalls felsenfest, waren aber anderer Art. Die Geschichte ihrer Liebe kenne ich nicht. Ich nehme an, sie spielte sich heimlich ab, doch ganz gewiß in ernster Würde, hinter Hecken oder Waldbüschen ...«
»Warum heimlich?« unterbrach ich ihn.
»Wegen des Vaters der Dame. Der war ein wilder Gefühlsmensch, der wiederum seine eigenen, sehr bestimmten Ansichten über seine Vaterrechte hegte. Er war ein Tyrann; daß aber Fyne überhaupt Einbildungskraft besaß, zeigte sich in seinem Stolze auf die Verwandtschaft seiner Frau. Sie reizte seinen Scharfsinn. Es ist schwer -- nicht wahr? --, den Mädchennamen seiner Frau in einem allgemeinen Gespräch anzubringen. Aber mein prächtiger Fyne brachte es mit Hilfe des Kapitäns Anthony fertig, sonst hätte ich nichts von der Existenz dieses Mannes gewußt. ›Der Bruder meiner Frau, der Seemann‹, hieß es da. Er führte diesen Seemannsbruder bei den verschiedensten Anlässen ins Treffen: bei indischen und Kolonialangelegenheiten, bei Verkehrsfragen, Reisegesprächen, in Verbindung mit Seebädern und anderem. Ich kann mich sogar erinnern, wie der ›Bruder meiner Frau, Kapitän Anthony,‹ sogar bei einem Sonnenuntergang herhalten mußte. Auch vergaß Fyne nie hinzuzusetzen: ›Der Sohn von Carleon Anthony, dem Dichter, Sie wissen ja.‹ Er pflegte für diese Feststellung die Stimme etwas zu dämpfen, und die Leute fühlten Ehrfurcht, oder taten doch so.
Der selige Carleon Anthony, der Dichter, besang sein Leben lang die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Annehmlichkeiten unseres Zeitalters, in überaus abgerundeten Versen; seine Absicht ging, wie er selbst sagte, dahin, das Ergebnis einer sechstausendjährigen Entwicklung, im Hinblick auf Verfeinerung der Gedanken, Manieren und Gefühle zu verherrlichen. Warum er diese Zeitspanne gerade auf sechstausend Jahre festlegte, weiß ich nicht. Seine Gedichte lasen sich wie sentimentale Romane, in wirklich gute Verse gebracht. Man kam sich vor, als führe man an einem Sommertage mit einer entzückenden Dame im Ponywagen über Land. Aber in seinem häuslichen Leben wies Carleon Anthony Anklänge an das urwüchsige Temperament des Höhlenmenschen auf. Er war ein grober, unverträglicher Mensch mit einem nicht unschönen Gesicht, herrisch und anspruchsvoll gegen seine Angehörigen, aber unglaublich süß und geschmeidig vor fremden Bewunderern. Dieses grundverschiedene Benehmen muß für seine schwergeprüfte Familie besonders aufreizend gewesen sein. Nach dem Tode seiner zweiten Frau brannte sein Sohn, den er aus bloßer Laune zu Hause erzog, in üblicher Weise durch, warf sich, wie angeekelt von den Freuden der Zivilisation, sozusagen ins Meer. Die Tochter (das ältere der beiden Kinder) hielt es aus Mitleid, oder weil Frauen im allgemeinen sehr viel mehr erdulden können, noch etliche Jahre bei dem Dichter aus, bis auch sie eine Gelegenheit zur Flucht ergriff und sich Fyne, dem Fußwanderer, in die starken Arme warf. Dabei bewies sie entweder großes Glück oder großen Scharfblick. Ein Staatsbeamter, so sollte ich meinen, ist das letzte aller Wesen, das etwa die Charakterzüge des Höhlenmenschen aufweisen könnte, vor denen sie eben floh. Ihr Vater weigerte sich, sie nach ihrer Hochzeit jemals wieder zu sehen. Eine so unversöhnliche Selbstsucht ist schwer zu erklären, außer als eine perverse Art von Überfeinerung. Übrigens bestanden geraume Zeit vor seinem Tode lebhafte Zweifel an Carleon Anthonys geistiger Gesundheit.«
Das meiste von dem Vorhergehenden erfuhr ich durch Marlow, denn ich kannte Carleon Anthony nur aus seinen wenig aufregenden, aber formvollendeten Gedichten. Marlow versicherte mir, daß Fynes Ehe eine erfolgreiche, sogar glückliche gewesen sei, ohne alles spielerische Beiwerk, doch mit drei gesunden, tüchtigen, lebhaften Kindern gesegnet, lauter Mädchen. Auch sie waren alle Wandervögel. Sogar die Jüngste pflegte stundenweit fortzulaufen, wenn man sie nicht hinderte. Frau Fyne hatte gesunde Freiluftfarbe und trug Blusen mit gestärkter Brust, wie Herrenhemden, mit Stehkragen und langer Krawatte. Marlow hatte sie eines Sommers auf dem Lande kennengelernt, wo sie für die Ferien ein Häuschen zu mieten pflegten.
Hier wurden wir von Herrn Powell mit der Erklärung unterbrochen, er müsse uns verlassen. Die Ebbe sei im Anzug, kündigte er kurz an, während er vom Fenster wegtrat. Er wollte an Bord seines Kutters sein, bevor er schwoite, und natürlich an Bord schlafen. Das halte er unterwegs immer so. Dann war er mit einmal draußen, ohne großen Abschied, aber auch nicht unhöflich, und hinterließ in uns den Eindruck, als hätten wir ihn schon lange Zeit gekannt. Die ansprechende Art, in der er uns vom Beginn seiner Laufbahn erzählt, hatte dazu beigetragen. Ich dachte nicht daran, daß wir ihn wiedersehen würden. Marlow aber äußerte die Zuversicht, ihm bald, wieder zu begegnen.
»Er kreuzt den ganzen Sommer über an der Flußmündung und wird an jedem Wochenende leicht aufzufinden sein«, sagte er und läutete nach der Rechnung.
Später fragte ich Marlow, warum er diese Zufallsbekanntschaft aufrechterhalten wolle. Er mußte zugeben, daß es aus reiner Neugierde geschehe. Ich bilde mir ein, die verschiedensten Arten von Neugierde zu verstehen: Neugierde betreffs alltäglicher Vorfälle, Tagesneuigkeiten und alltäglicher Menschen. Es scheint mir die achtenswerteste Fähigkeit menschlichen Geistes. Ich wüßte tatsächlich nicht, wozu eine nicht neugierige Sinnesart gut sein sollte. Sie käme mir vor wie ein ewig verschlossenes Zimmer. In diesem besonderen Falle aber schien uns Powell ja schon völligen Einblick in seinen inneren Menschen gewährt zu haben, der Beobachtungsgabe und Gefühl für die Launen des Zufalls, aber auch eine gewisse Einfalt als Grundzug aufwies.
Marlow stimmte mir darin vollkommen bei. Aber er erklärte mir, daß sich seine Neugierde nicht ausschließlich auf Herrn Powell beschränkte. Sie reichte ziemlich viel weiter zurück, bis zu den Fynes und seiner Sommerbekanntschaft mit ihnen. Diese war durch das heutige Zusammentreffen mit einem Manne neu belebt worden, der unter Kapitän Anthony gedient hatte. Das hatte wohl auch seinen Grund, wenn keinen andern, so den einen, mich selbst mit alledem bekanntzumachen. Das geschah allmählich, in Abständen, die hier nichts zur Sache tun. Bei dieser Gelegenheit