Konfrontation mit einer Selbstvernichtung. Stefan G Rohr
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Wie schwer Ihnen so manche Passage in diesem Buch auch fallen wird, so lassen Sie sich auch von mir sagen, dass es den Zeitpunkt geben wird, an dem Sie wieder die Stärke, den Abstand und die Objektivität besitzen, trotz der nie endenden Schmerzen um Ihren bitteren Verlust, Schritte zu gehen, die für Sie heute noch undenkbar erscheinen. Allerdings bin ich ebenso um Lichtjahre von der irrigen Annahme entfernt, Ihnen nun die Plattitüde „Die Zeit heilt alle Wunden!" um die Ohren zu werfen. Jeden, der Ihnen in der aktuellen Phase dieses antut, sollten Sie sofort des Raumes verweisen.
Zum Schluss meines Vorwortes für dieses Buch möchte ich Sie gerne in etwas bestärken, welches in unserer Gesellschaft zu Recht auf dem Index gelandet ist – ironischer Weise trotz der Tatsache, dass dieses Etwas immer mehr Platz ergreift: der Egoismus. Wenn ich nun an Sie appelliere, nicht davor zurück zu scheuen, nun, in der aktuellen Phase, nur an sich selbst zu denken, daran, was Ihnen wohl tut, was Ihnen hilft, was Sie weiterbringt, und was das Gegenteil bewirkt und deswegen von Ihnen zurückgewiesen werden muss, dann ist es ein Appell an Ihren Egoismus. Was wir sonst als unangenehme Eigenschaft, unsozial und inkompatibel in Partnerschaftsbeziehungen verstehen, stellt aktuell für Sie ein Großteil Ihres Rettungsbootes dar. Als sozial verträgliche, kompatible und integrierte Persönlichkeiten streben wir förmlich dazu, unsere Interessen entweder „wohltuend“ in den Hintergrund zu stellen, wenigstens doch aber diese so verträglich zu priorisieren, dass wir uns selbst nicht selten dabei in den Nachteil setzen. Denn unser Gegenüber ist häufig mitnichten ähnlich ausgerichtet – vielmehr ein vitaler Egoist, der ohne nachzudenken, nicht selten sogar skrupellos, auf das Nehmen ausgerichtet ist.
In Ihrem aktuellen (und sicher noch lange andauernden) vorherrschenden Dilemma ist aber kein Platz mehr für die Interessen anderer. Ja, ich möchte sogar noch einen Schritt weiter gehen. Ohne nicht etwa die ersten zwei Dutzend Stellen auf Ihrer aktuellen Prioritätenliste mit dem „Ich“ zu besetzen, werden Sie möglicherweise Gefahr laufen, unter die (psychischen) Räder zu kommen. Es gibt momentan nichts von größerer Bedeutung für Sie, als Sie selbst! Eliminieren Sie also jedweden Altruismus, verschwenden Sie keine Gedanken daran, anderen in dieser Zeit nicht zur Last zu fallen, sich vielleicht mit Ihren Überlegungen und Erklärungsversuchen nicht zu äußern, sich zu beherrschen, nicht ständig dasselbe Thema, dieselben Aspekte und Fragen, Hinweise und Gedanken, Ihre Sorgen und Qualen, Ihre Tränen und offensichtlich akut vorhandenen physischen Beschwerden in dem Maß zu thematisieren, wie SIE ES WOLLEN.
Schämen Sie sich weder Ihrer Verzweiflung und Trauer, noch Ihrer Tränen und Weinkrämpfe, nicht Ihrer Wut, nicht Ihrer Schlafstörungen, nicht Ihres Zitterns oder Ihrer Konzentrationsschwächen und Erinnerungslücken. Begegnen Sie bewusst und ohne Selbstzweifel all Ihren aktuellen Verhaltensweisen und Opfer-/Trauma-Symptomen. Ob Sie Probleme mit dem Verlassen des Hauses, mit der Begegnung der Nachbarn, dem Einkaufen, der Nutzung von Haushaltsgegenständen oder erinnerungsbedeutsamen Sachen, oder auch nur mit dem Aussprechend des Namens des Suizidenten haben. Es ist normal! Wenngleich dieses Adjektiv fast schon sarkastisch klingt, wenn es in diesem Zusammenhang Verwendung findet.
Es geht aber nur noch um Sie! Ihr geliebter Mensch ist tot. Das ist ein ebensolches Faktum, wie die Tatsache, dass dieser nie wieder zurückkehrt. Und da Suizid stets eine ganz persönliche Entscheidung ist, müssen Sie nun die Position einnehmen, das nicht nur zu akzeptieren, sondern im Umkehrschluss sich selbst der Verpflichtung zu unterwerfen, dass Sie weiterleben, Sie schuldlos (und das sind Sie!) verurteilt wurden, mit all dem zurechtkommen zu müssen. Und da Ihnen diese psychische Meisterleistung niemand abnehmen kann, haben Sie aktuell das absolute Vorrecht auf alle Prioritäten in Ihrem Leben. Es geht jetzt in erster Linie um SIE! Seien Sie also einfach so egoistisch, wie Sie es BRAUCHEN, und nicht nur, wie Sie es vor Ihrem Innersten rechtfertigen und vertragen können. Betreiben Sie die größtmögliche FÜRSORGE für sich selbst. Beobachten Sie sich intensiv, registrieren Sie Ihre Reaktionen und versuchen Sie es, das Geschehen um Sie herum dahingehend zu „ordnen“, dass Sie schnellstmöglich erfassen, was Ihnen guttut und was dem entgegensteht. Seien Sie dabei in besonderer Weise ehrlich ZU SICH SELBST. Vermeiden Sie die anerzogenen Reflexe sich zurückzunehmen und zu Dingen „Ja“ zu sagen, die Sie nicht wollen, nicht hören mögen, (noch) nicht akzeptieren oder umsetzen möchten. Seien Sie im Umgang mit sich selbst so behutsam wie es geht und bleiben Sie in „Alarmstimmung“ was Ihre Gesamtverfassung (psychisch, körperlich) anbelangt. Und zögern Sie nicht, sich eine fachlich versierte therapeutische Begleitung zu suchen, sofern Sie den Eindruck gewinnen, selbst nicht mehr Frau/Herr Ihrer selbst zu sein.
Sie sind wahrscheinlich gerade empfindlicher als ein rohes Ei mit angebrochener Schale. Sie werden durch diese Phase durchkommen, dazu aber bedarf es nicht nur viel Kraft, sondern auch Selbstvertrauen und die rechtzeitige Einsicht, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, die Ihnen Ihrer Auffassung nach wirklich Hilfe versprechen.
Diesen Rat gebe ich Ihnen – wie eingangs ausgeführt – nicht als Hobby-Therapeut, sondern als Leidensgenosse, der Ihre katastrophale Lage am eigenen Leibe und in epischer Breite selbst durchleben musste. Ob ein Sie begleitender psychologisch geschulter Experte es auf ebensolche Weise empfiehlt oder ausdrückt, kann ich Ihnen nicht sagen. Es sind meine eigenen Erfahrungen und Reaktionen, Entscheidungen und Maßnahmen, von denen ich heute weiß, dass diese mir (persönlich, individuell) sehr geholfen haben, in meiner Apokalypse zu „überleben“. Mir ist es mehr als bewusst, dass wir Menschen sehr unterschiedlich sind, entsprechend individuell reagieren, denken und fühlen. Nicht alles, was für mich selbst als richtig verstanden werden kann, muss demnach auch für Sie gelten. Deshalb ist es so wichtig, dass Sie bei der Lektüre dieses Buches stets auch ein Auge darauf haben, was jeweils Ihre eigene Position ist, was Ihnen Ihr tiefstes Inneres sagt und empfiehlt. Aber ungeachtet des Umstandes, wie hoch unsere Übereinstimmung auch ausfällt, es ist für Sie als Leser/in mit großer Wahrscheinlichkeit hilfreich, die Sichtweise und das Handeln eines anderen Suizid-Hinterbliebenen in der Art und Tiefe zu erfahren, wie ich diese in dem Ihnen vorliegenden Buch anbiete.
Hinweis und Empfehlung zur Lektüre dieses Buches
Auch wenn ich mir als Autor Mühe gegeben habe, dieses Buch thematisch so zu strukturieren, dass ich Sie, verehrte/r Leser/in, behutsam und empathisch durch dieses Werk führen kann, so ist es Ihnen ganz allein überlassen, ob Sie meinem Vorschlag folgen wollen/können, denn allein Sie selbst können empfinden, welche Reihenfolge der von mir verfassten Texte für Sie die geeignetste ist.
Schauen Sie sich deshalb (nochmals) das Inhaltsverzeichnis an und entscheiden Sie selbst, welche der Themen Sie gegenwärtig am meisten interessieren und mit den vielen Fragen und Irritationen in der von Ihnen erwünschten Abfolge korrespondieren. Es tut diesem Buch keinen Abbruch, wenn Sie sich Ihre eigene Struktur schaffen. Springen Sie bei Bedarf hin und her – es sind allein Ihre Emotionen und Bedürfnisse, die zählen. Entscheiden Sie selbst, wann Sie sich für bestimmte Themenfelder in diesem Buch interessieren, wann Sie innerlich bereit und in der Lage sind, sich mit diesen auseinander zu setzen.
Überblättern Sie überdies die Stellen, die Ihnen zurzeit noch zusätzliche Schmerzen bereiten. Kommen Sie auf diese dann zurück, wenn Sie innerlich dazu bereit sind, oder durch das vorliegende Buch überzeugt werden, diese Passagen dann doch zu lesen. Seien Sie sich dabei gewiss, dass ich sehr wohl weiß, wie schmerzvoll und anstrengend, wie belastend und mühselig ein solches Lesen/Hören ist.
Als Autor kommt es mir allein darauf an, Ihnen in der wohl schwersten Zeit Ihres Lebens eine Hilfe angedient haben zu können – und diese ist weder protokollarisch festgelegt, noch quantitativ vorgegeben.
Teil 1: Das Unfassbare begreifen
In diesem Buchteil befasse ich mich mit unserer Verzweiflung,