Konfrontation mit einer Selbstvernichtung. Stefan G Rohr

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Konfrontation mit einer Selbstvernichtung - Stefan G Rohr

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Verzweiflung erfüllt uns, eine Kraft, die uns aus unserer Umlaufbahn geworfen hat. Und jetzt jagen wir in Lichtgeschwindigkeit inmitten eines Meteoritenhagels durch eine fremde Galaxie.

      Obwohl doch der Tod mit unserem ersten Atemzug auf dieser Welt vollkommen unausweichlich verbunden ist, ja mehr noch, von allem im Leben das tatsächlich einzig Garantierte ist, – das eigene Ende, die eigenen Vergänglichkeit – so wird von uns Lebenden und denkenden Individuen nicht mehr verdrängt, nichts wird weniger wahrgenommen und erwartet als der eigene Tod. Begleitet uns dieser auch auf noch so vielen Wegen, erscheint er uns im Laufe unserer Existenz in so mannigfaltiger und manchmal tragisch deutlichen Weise, bleiben wir für uns selbst, eingeschlossen unsere nächsten Menschen, mit stoischer Ignoranz ausgestattet. So, als ob wir selbst und unsere Liebsten von alledem verschont sein würden, das Unglück, der Schmerz, die Schicksalsschläge ausschließlich anderen überlassen bleiben. Trotz der Tatsache, dass je älter wir werden, die einzelnen Vorfälle im Familien- und Freundeskreis immer näher rücken, uns in unzähligen Varianten die Realität vor Augen führen, in Gnade oder mit dramatischer Wucht, so erschüttert es den Menschen immer wieder aufs Neue zutiefst, sich mit dem Ableben eines Nahestehenden abfinden zu müssen.

      Bemerkenswert dabei ist der Umstand, dass wir Lebenden schon frühzeitig gelernt haben, den Tod in mehr oder minder schwer hinzunehmende Kategorien einzuteilen. Stirbt ein alter Mensch, nach einem langen und erfüllten Leben, trifft diesen des Nachts beim Schlaf der Schlag, oder schläft er einfach ruhig und beschwerdefrei ein, so empfinden wir landläufig den Tod sogar in tiefer Dankbarkeit als schön und fast begehrenswert. Stirb ein geliebter Mensch nach langem und schweren Leiden, so hält uns die Tragik sicher schon länger fest im Griff, doch empfinden wir den Tod eher als Erlöser von Qualen und Beschützer vor einem vielleicht nicht mehr menschengerechtem Siechtum. Auch hier überwiegt Dankbarkeit und die Einsicht in eine gnädige Natur und Schicksalsfügung. Haben wir allerdings ein Unfallopfer zu beklagen, einen Nahestehenden, der unversehens und vielleicht inmitten seines Lebens aus diesem gerissen wurde, so ist die Qual über den Verlust, das Erleben der Tragödie – verbunden mit der Klageführung in Bezug auf ein „ungerechtes Schicksal“ - schon eine ganz andere Schmerzdimension. Der Verlust entpuppt sich in einer Dimension, deren Anfang und Ende von niemandem – mag man sich auch noch so bemühen – ohne eigene Erfahrung antizipiert werden kann.

      Doch der Verlust durch Suizid geht mit nichts von alledem einher. Es fehlt mir an mathematischem Verständnis und ethischer Hemmungslosigkeit eine Relation in Form einer Metapher zu beschreiben, die auszudrücken vermag, in wie weit sich der Schmerz und die Verzweiflung doch dimensional von allen anderen Todesereignissen in Kraft und Zermürbung absetzt. Ich habe es selbst nur so beschrieben: Man wird in Nanosekunden in eine ferne und fremde Galaxie katapultiert, für deren Unerträglichkeit noch keine Sprache erfunden werden konnte. Ein philosophischer Gedanke, der von einigen unserer Vordenker schon vor langer Zeit zur Frage „Gibt es eine Hölle?“ ausgesprochen wurde, hat sich mir in diesen Zeiten in epischer Breite aufgedrängt: Ja, es gibt eine Hölle, und wir sind mittendrin, wir müssen nicht mehr auf das Jüngste Gericht warten, es liegt bereits hinter uns und es muss die Höchststrafe gegen uns verhängt worden sein, denn diese sitzen wir nun ab. Auch wenn das sehr pathetisch klingt, so erscheint mir dieser Ansatz als der einzige, der sich als sinnsprechende und anzuführende Metapher eignet.

      Psychisch Kranke, die unter schwersten Depressionen leiden, haben vielleicht noch am ehesten die Fähigkeit zur Antizipation. So beschrieb Andrew Solomon in seinem Buch „Saturns Schatten“ das Erleben seiner (schweren) Depressionen als Fall in eine endlose und schwarze Tiefe. Und die Gefahr, als Hinterbliebener eines Suizidenten selbst in zerstörerische Depressionen zu fallen, ist enorm groß. Ich selbst habe an mir beobachten müssen, dass mit dem Abstand von den ersten Tagen und Wochen nach dem Suizid meiner geliebten Frau die Schmerzen, das Leid, die Qualen noch intensiver wurden, der Pegel tatsächlich noch nicht ausgereizt war. So begann ich Angst vor den Attacken zu bekommen. Ich fürchtete mich regelrecht davor, von meinem Schmerz wieder überrascht zu werden, nur weil ich zum Beispiel beim Einkaufen ein Pärchen sah, welches Hand in Hand durch den Laden lief, und ich sofort – ungebremst und unaufhaltsam – einen Weinkrampf hatte, den ich nur mit größter Mühe von anderen Kunden verbergen konnte. Und auch den Fluss meiner Tränen konnte ich lange kaum kontrollieren. Sie strömten einfach herunter, und nach einiger Zeit bemerkte ich das nicht einmal mehr. Durch das viele verkrampfte Weinen, die sich immer wieder aufbäumende tiefe und innere Verzweiflung, war mein ganzer Körper in Mitleidenschaft geraten. Ich hatte längere Zeit eine nicht mehr unterdrückbare Schnappatmung, Hitze- oder Kältewallungen, einen am Boden zerstörten Blutdruck, zitterte immer wieder am ganzen Leibe, bekam Gelenk und Muskelschmerzen, Krämpfe, Übelkeit, war schon bei der kleinsten Kleinigkeit (Einräumen des Geschirrspülers) am Ende meiner Kräfte angekommen. Völlige Appetitlosigkeit wechselte sich unversehens mit regelrechten Fressattacken ab, wochenlang ging ich im Haus auf und ab, von Fenster zu Fenster, auf dem Weg zur Garage, in der Öffentlichkeit nach vorn übergebeugt, mein Gang hatte sich verändert, und ich war über Nacht um ein Jahrzehnt gealtert. Am schlimmsten zu ertragen waren aber die lange anhaltenden Konzentrationsschwierigkeiten, das nicht mehr einwandfrei funktionierende Gedächtnis und eine damit verbundene Fahrigkeit und Nervosität, die mich selbst fast in den Wahnsinn trieb.

      Binnen weniger Schritte oder Sekunden hatte ich vergessen, warum ich in den Keller gegangen oder die Kühlschranktüre geöffnet hatte. Ich stand im Schlafzimmer und es wollte mir partout nicht mehr einfallen, warum ich mich in diesen Raum begeben hatte. War ich, wie sonst gewohnt, ohne Liste im Supermarkt, so war in dieser Phase nicht im Traum daran zu denken – ich hätte nicht mehr gewusst, was ich alles kaufen musste, um meine Versorgung zu gewährleisten. Ich vergaß, wo ich den Wagen in der großen Tiefgarage abgestellt hatte und irrte durch diverse Etagen des Parkhauses, bis ich ihn endlich fand. Meine Sprache war spontan schleppend geworden, mir fielen die einfachsten Wörter nicht mehr ein, stolperte von Satzteil zu Satzteil, um sodann vergessen zu haben, was ich überhaupt sagen wollte.

      Verschlimmert wurde diese Situation zudem dadurch, dass die Regelungen mit Banken, Behörden, Versicherungen oder auch nur dem Sportklub keinen Aufschub duldeten. Nach einem Suizid des eigenen Ehepartners, wie in meinem Fall, mangelt es grundlegend an Stabilität und einer rudimentär vitalen Physis. Die aber ist schon deswegen nicht zu erreichen, da an nächtlichen Schlaf in dieser Zeit gar nicht zu denken ist. Wenn ich für wenige Stunden in den Schlaf geriet, so kam dieser eher einer Ohnmacht gleich, verbunden mit den wildesten Träumen, die mich schweißgebadet immer wieder hochschrecken ließen. In den ersten vier Wochen baute sich so ein Schlafdefizit auf, welches das Potenzial für einen physischen Kollaps barg. Doch ich hielt mich dennoch aufrecht und klappte erstaunlicherweise nicht zusammen. Das war aus meiner heutigen Betrachtung heraus ganz zweifelsfrei dem Umstand geschuldet, nicht allein gewesen zu sein. Fast durchgängig war in den ersten Wochen stets mindestens ein vertrauter Mensch bei mir – dieses Tag und Nacht, und ich kann mit großer Sicherheit behaupten, dass es nur dieser Betreuung zu verdanken ist, dass ich nicht in eine geschlossene Psychiatrie hätte eingewiesen werden müssen.

      Die guten Menschen um mich herum, die teilweise aus großer Ferne angereist waren, nachdem sie alles stehen und liegen gelassen hatten, um mich auffangen zu können, hörten mir zudem schier endlos zu. Sie verschonten mich weitgehend mit eigenen Interpretationen und allgemeinverbindlichen Plattitüden, spendeten nahezu ausschließlich nur darüber Trost, in dem sie da waren, mich immer wieder dasselbe sagen ließen, meinen ewig gleichen Gedankengängen ohne Müdigkeit und Gereiztheit folgten, still beobachteten und mich fürsorglich versorgten, wenn es ums Essen oder um notwendige Aktivitäten ging. Ich kann heute meine Dankbarkeit diesen Menschen gegenüber kaum in Worte fassen, vor allem weil ich erahnen kann, wie aufreibend und belastend die Wahrnehmung ihrer Rolle in diesen langen Tagen und Wochen gewesen sein muss.

      Da ich meine Frau nach ihrem Suizid selbst gefunden habe (siehe Anhang), war meine Lage nochmals besonders erschwert. Nicht nur, dass sich das Bild in meinem Kopf derart festgefressen hatte, dass es mich pausenlos begleitete, unabhängig ob ich wach war oder schlief, ich war vor allem gezwungen, mehrfach am Tage an der Todesstelle vorbeigehen zu müssen, denn schließlich lebte ich

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