Rudyard Kipling - Gesammelte Werke. Rudyard Kipling

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Rudyard Kipling - Gesammelte Werke - Rudyard Kipling

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ist der Mann, der im Schmutz grub, als er sich fürchtete in jener Nacht?«

      »Er starb vor einem Jahr.«

      »Und er?« Mogli wies auf das Kind.

      »Mein Sohn, der vor zwei Regenzeiten geboren wurde. Wenn du ein Schutzgeist bist, so schenke ihm die Gunst der Dschungel, auf daß er sicher sei unter deinem – deinem Volk, wie wir sicher waren in jener Nacht.«

      Sie hob ihm das Kind entgegen. Das vergaß alle Furcht und streckte den Arm aus nach dem Messer auf Moglis Brust, um damit zu spielen; sehr behutsam legte Mogli die kleinen Finger zur Seite.

      »Und wenn du Nathu bist, den der Tiger fortschleppte«, sagte Messua schluchzend, »dann ist es dein jüngerer Bruder. Gib ihm des älteren Bruders Segen.«

      »Ach, ach! Was weiß ich von einem Dinge, das Segen heißt? Weder Schutzgott bin ich noch sein Bruder. O Mutter, Mutter, wie schwer ist mein Herz in mir.« Als er das Kind niedersetzte, erschauerte er.

      »Leicht möglich«, sagte Messua, an den Herd tretend. »Das kommt vom nächtlichen Streifen in den Morästen. Fraglos ist dir das Fieber in das Mark gefahren.« Mogli mußte lächeln bei dem Gedanken, daß irgend etwas ihm schaden könnte in der Dschungel. »Feuer will ich machen, und warme Milch sollst du trinken. Lege den Jasminkranz fort, schwer ist der Duft in einer so kleinen Hütte.«

      Mogli setzte sich nieder, vergrub das Gesicht in den Händen und murmelte vor sich hin. Fremdartige, nie gekannte Gefühle überkamen ihn, ganz so, als ob er Gift geschluckt hätte, heiß und kalt wurde ihm, schwindelig und übel. In tiefen Zügen trank er die warme Milch; Messua streichelte ihn leise, und so fühlte sie wenigstens, daß er aus Fleisch und Blut war, und das machte sie froh.

      »Sohn«, sagte sie endlich, und ihre Augen blickten mit Stolz auf ihn, »hat man dir niemals gesagt, daß du schöner bist als alle anderen Menschen?«

      »Ha?« fragte Mogli, denn natürlich hatte er nie derartiges gehört. Messua lachte leise und glücklich. Der Ausdruck seines Gesichts sagte ihr genug.

      »Da bin ich also die erste? Aber es ist selten, daß eine Mutter dem Sohn zuerst sagt, daß er schön sei. Nie sah ich so einen Mann.«

      Mogli drehte den Kopf und versuchte, über seine feste Schulter hinweg nach rückwärts zu blicken. Messua lachte lange und herzlich, daß Mogli zu seinem Befremden mitlachen mußte. Das Kind lief hin und her zwischen ihnen und lachte auch. »Nein, du darfst nicht lachen über deinen Bruder«, sagte Messua zu dem Kinde und drückte es an ihre Brust. »Wenn du nur halb so schön wirst, verheiraten wir dich mit der jüngsten Tochter eines Königs, und du sollst große Elefanten reiten.«

      Mogli verstand kaum jedes dritte Wort dieser Rede. Die warme Milch machte ihn schläfrig nach dem weiten Lauf; so kauerte er sich hin und war im nächsten Augenblick eingeschlafen. Messua strich ihm das Haar aus den Augen, breitete ein Tuch über ihn und fühlte sich glücklich.

      Nach Dschungelart durchschlief er den Rest der Nacht und den ganzen folgenden Tag; sein Instinkt, der niemals ganz schlummerte, sagte ihm, daß keine Gefahr drohe. Als er erwachte, sprang er hoch, daß die ganze Hütte erbebte, denn unter dem Tuche hatte ihm von Fallgruben und Fallen geträumt. Jetzt stand er mit der Hand am Messer, die rollenden Augen noch schwer vom Schlaf, zum Kampf bereit.

      Messua setzte ihm lachend die Abendmahlzeit vor. Sie bestand aus einigen harten, über rauchendem Feuer gebackenen Kuchen, etwas Reis und sauren eingemachten Tamarinden; für ihn mochte das gerade reichen bis zum Abendtöten. Der Tauduft von den Morästen her machte ihn hungrig und rastlos. Er sehnte sich danach, seinen Frühlingslauf zu beenden, aber das Kind wollte durchaus auf seinen Armen sitzen, und Messua kämmte sein blauschwarzes Haar. Sie sang beim Kämmen närrische kleine Kinderlieder, nannte ihn bald »Nathu, mein Sohn«, bald bat sie ihn, von seiner Dschungelkraft dem Kinde zu schenken. Die Tür der Hütte war geschlossen, doch Mogli hörte einen vertrauten Laut und sah, wie Messua entsetzt den Mund aufriß, als eine graue Pfote sich unter der Türritze durchschob und Graubruder draußen dumpf und kläglich winselte vor Angst und Sorge.

      »Draußen bleiben und warten!« rief Mogli in der Dschungelsprache, ohne den Kopf zu wenden. »Als ich rief, kamt ihr nicht.« Lautlos verschwand die große Pfote.

      »Bringe nicht – bringe nicht deine – deine Diener mit dir«, sagte Messua. »Ich – wir lebten stets in Frieden mit der Dschungel.«

      »Es ist Frieden«, sagte Mogli und erhob sich. »Denke an die Nacht auf der Straße nach Kanhiwara. Horden solcher Völker liefen vor dir her und hinter dir. Doch ich sehe, daß auch im Frühling die Dschungelvölker nicht immer vergessen. Ich gehe nun, Mutter.«

      Messua trat demutsvoll zur Seite; ein Waldgott ist er doch, dachte sie. Aber als seine Hand auf dem Türgriff lag, erwachte die Mutter in ihr, und wieder und wieder schlang sie die Arme um Moglis Hals.

      »Kehre zurück«, flüsterte sie. »Sohn oder nicht Sohn, kehre zurück, denn ich liebe dich – und sieh, auch er trauert.«

      Das Kind weinte, weil der Mann mit dem blanken Messer fortgehen wollte.

      »Kehre zurück«, wiederholte Messua. »Nie ist dir diese Tür verschlossen, bei Tag oder Nacht.«

      Etwas stieg hoch in Moglis Kehle, als ob die Stimmbänder gedehnt würden; seine Stimme schien wie mit Stricken aus ihm gezerrt zu werden, als er endlich sagte: »Gewiß, ich komme wieder.«

      »Und nun habe ich ein Wort mit dir zu reden, Graubruder«, sagte er und nahm den Kopf des Wolfes, der ihn an der Türschwelle umschmeichelte. »Warum kamt ihr nicht, alle vier, als ich euch rief vor langer Zeit?«

      »Vor langer Zeit? Verstrichene Nacht war es erst. Ich – wir sangen in der Dschungel die neuen Lieder, denn es ist die Zeit der ›Neuen Rede‹. Vergaßest du?«

      »Wahrlich, du hast recht.«

      »Und sobald die neuen Lieder gesungen waren«, fuhr Graubruder fort, »folgte ich deiner Fährte. Ich lief fort von den anderen und folgte dir heißen Fußes. Aber, kleiner Bruder, was tatest du – fressen und schlafen mit dem Menschenpack?«

      »Wäret ihr gekommen, als ich rief, wäre das nie geschehen«, antwortete Mogli und lief nun immer schneller.

      »Und – was jetzt?« Graubruder sah ihn fragend an.

      Mogli wollte erwidern, als ein Mädchen in weißen Gewändern den Pfad herabgeschritten kam, der zum Dorf führte. Graubruder verschwand augenblicklich außer Sicht, und Mogli trat geräuschlos in ein Feld voll hochstehender Ähren. Fast hätte er das Mädchen mit den Händen berühren können, als die warmen grünen Halme sich hinter ihm schlossen. Wie ein Geist löste er sich auf in der Dunkelheit. Das Mädchen schrie auf, denn sie vermeinte einen Nachtspuk zu sehen, dann seufzte sie tief. Mogli bog die Ähren auseinander und sah ihr sinnend nach, bis sie verschwunden war.

      »Jetzt weiß ich noch immer nicht«, sagte er und seufzte nun ebenfalls, »warum ihr eigentlich kamt?«

      »Wir folgen dir, wir folgen dir«, murmelte Graubruder, Moglis Füße leckend. »Immer folgen wir dir, außer in der Zeit der ›Neuen Rede‹.«

      »Auch zum Menschenvolk?«

      »Folgte ich dir nicht in jener Nacht, als unser altes Pack dich ausstieß? Wer weckte dich, als du zwischen Ähren lagst?«

      »Ja, aber wiederum?«

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