Rudyard Kipling - Gesammelte Werke. Rudyard Kipling
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Ehe sich Müller von seinem Staunen erholen konnte, stand der seltsame Mensch schon neben Gisborne und rief: »Unrecht war es von mir, fortzugehen. Unrecht war es. Aber ich wußte nicht, daß die Gefährtin des Tigers, den du hier am Flusse getötet hast, wachte und dir auflauerte. Sonst wäre ich nicht fortgegangen. Sie schleicht dir nach, Sahib, auf der Schneise dahinten.«
»Er ist ein wenig verrückt«, sagte Gisborne. »Er spricht von allen Tieren hier herum, als ob sie seine Freunde wären.«
»Natürlich – natürlich, wer sonst als Faun kann mit Tieren vertraut sein?« entgegnete Müller ernst. »Was meint er denn mit den Tigern – dieser Gott, der sie so gut kennt?«
Gisborne steckte sich eine frische Zigarre an, und sie war bis zum Ende heruntergebrannt, als er die Geschichte von Mogli und seinen Heldentaten beendet hatte. Müller hatte zugehört, ohne einmal zu unterbrechen. »Das ist kein Wahnsinn, ganz und gar nicht«, sagte er schließlich, als ihm Gisborne die Hetze Abdul Gafurs beschrieben hatte.
»Was soll es sonst sein? Heute morgen verließ er mich aufgebracht, nur weil ich ihn fragte, wie er das zuwege gebracht hätte. Irgendwie ist der Bursche besessen, glaube ich.«
»Nein, das ist keine Besessenheit, aber höchst wunderbar ist es. Gewöhnlich sterben sie jung, diese Leute. Und Sie sagen, Ihr Spitzbube von Diener hat nichts darüber ausgesagt, wer die Stute trieb – der Nilghaibulle kann natürlich nicht sprechen.«
»Nein, und verdammt noch mal, da war auch nichts. Ich habe genau gehorcht, und meine Ohren sind gut. Der Bulle und der Mann kamen einfach angestürzt – wie irrsinnig vor Angst.«
Müller schwieg, musterte Mogli von oben bis unten und winkte ihm dann, näher zu treten. Mogli kam heran wie ein Rehbock auf verwischter Fährte. »Brauchst keine Angst zu haben«, sagte Müller in der Landessprache. »Streck' deinen Arm aus.«
Er betastete den Arm am Ellenbogen und nickte. »Das habe ich mir gleich gedacht. Nun die Knie.« Gisborne sah, wie er die Kniescheibe betastete, und lächelte. Ein paar Narben dicht über dem Fußgelenk fielen ihm auf.
»Die kamen, als du noch ganz jung warst?« fragte Müller.
»Ja, Liebesbeweise der Kleinen«, antwortete Mogli lächelnd. Dann zu Gisborne gewandt: »Dieser Sahib weiß alles; wer ist er?«
»Das kommt später, mein Freund. Wo sind denn nun die Kleinen?« fragte Müller.
Mogli schwenkte seinen Arm im Kreis über dem Kopf.
»So! Also Nilghais kannst du treiben? Paß auf. Dort drüben steht angepflockt meine Stute. Kannst du sie hierher zu mir bringen, ohne sie zu erschrecken?«
»Kann ich die Stute zu dem Sahib bringen, ohne sie zu erschrecken?« wiederholte Mogli und erhob dabei ein wenig seine Stimme. »Was ist leichter, wenn die Fußfesseln gelockert sind?«
»Lockere die Kopf- und Fußriemen«, rief Müller dem Pferdewärter zu. Kaum war das geschehen, als das Pferd, ein riesiger schwarzer Australier, den Kopf aufwarf und die Ohren spitzte.
»Vorsicht! Ich möchte nicht, daß sie ins Rukh getrieben wird«, sagte Müller.
Mogli stand unbeweglich und starrte in das Licht des Feuers – in Gestalt und Haltung dem vielgepriesenen griechischen Gott gleichend. Die Stute wieherte, hob ein Hinterbein, fühlte sich von den Fesseln frei, kam rasch zu ihrem Herrn getrabt und legte ihm den Kopf auf die Schulter.
»Sie kam von selbst, meine Pferde tun das auch«, wandte Gisborne ein.
»Fühle, ob sie heiß ist«, sagte Mogli.
Gisborne legte die Hand auf die feuchte Flanke des Pferdes.
»Das genügt«, erklärte Müller.
»Das genügt«, wiederholte Mogli, und ein Fels hinter ihm warf die Worte hallend zurück.
»Unheimlich, nicht wahr?« fragte Gisborne. »Nein, aber wunderbar, höchst wunderbar. Sie begreifen noch immer nicht, Gisborne?«
»Ich muß gestehen, nein.«
»Na, dann erzähle ich Ihnen auch nichts. Er sagt, daß er Ihnen später alles zeigen wird. Es wäre doch grausam, ihm die Freude zu nehmen. Aber höchst seltsam ist es, daß er noch lebt. Nun höre, du.«
Müller blickte Mogli scharf an und redete wieder in der Landessprache: »Ich bin der Herr aller Wälder im Lande Indien und anderer jenseits des schwarzen Wassers. Wie viele Leute ich unter mir habe, weiß ich nicht – vielleicht fünf-, vielleicht zehntausend. Das aber sei deine Aufgabe – nicht mehr umherzustreifen im Rukh und Tiere zur Kurzweil oder zur Schau zu treiben, sondern in den Dienst zu treten unter mir, der für Wälder und Forsten die Regierung ist. Von nun ab sollst du im Rukh als Waldhüter leben, sollst die Ziegen der Dörfler verjagen, wenn nicht Weisung gegeben ist, sie im Rukh grasen zu lassen, dafür sorgen, daß Schwarzwild und Nilghais nicht allzusehr überhandnehmen, sollst Gisborne Sahib melden, wo Tiger wechseln und was für jagdbares Wild im Walde ist und ihm sichere Warnung zukommen lassen vor Waldbränden, denn du kannst schneller Meldung bringen als jeder andere. Für diese Arbeit bekommst du jeden Monat dein Gehalt in Silber und später, wenn du dir ein Weib genommen hast, Kinder und Vieh besitzt, eine Rente vom Staat. Was sagst du dazu?«
»Genau das habe ich ihm ...«, begann Gisborne.
»Mein Sahib sprach diesen Morgen von solch einem Dienst. Den ganzen Tag wanderte ich umher und sann darüber nach. Dies meine Antwort: Ich diene, aber nur in diesem Rukh und unter keinem anderen als Gisborne Sahib.«
»So sei es. In einer Woche bekommst du deine schriftliche Anstellung und die Verpflichtung der Regierung auf eine Rente für dich nach Ablauf der Dienstzeit. Dann wirst du dir eine Hütte aufbauen, wo Gisborne Sahib es bestimmt.«
»Ich wollte schon darüber mit Ihnen reden«, sagte Gisborne.
»Besser war es, daß ich den Mann selbst sah. Einen besseren Waldhüter wird es niemals geben. Ein Wunder ist er. Ich kann Ihnen sagen, Gisborne, das werden Sie eines Tages auch herausfinden. Hören Sie, er ist Blutsbruder mit jedem Tier im Rukh.«
»Es würde mir angenehmer sein, wenn ich ihn durchschauen könnte.«
»Das kommt schon noch. Ich will Ihnen sagen, daß ich nur einmal in meiner Dienstzeit, und das sind dreißig Jahre, einen Jungen getroffen habe, der so anfing wie dieser Mann hier. Aber er starb. Manchmal ist in den Regierungsberichten von solchen Wesen die Rede, aber alle sterben sie früh. Der hier ist am Leben geblieben und ist ein richtiger Anachronismus, denn sein Ursprung liegt noch vor der Eisen- und Steinzeit. Er steht gewissermaßen noch am Anfang der Geschichte der Menschheit – Adam im Garten Eden, und nur die Eva fehlt noch. Ach wo, älter ist er noch als diese Kindermärchen. So wie das Rukh noch älter ist als die Götter. Gisborne, von nun an bin ich Heide, ein für allemal.«
Den ganzen langen Abend noch saß Müller, rauchte und rauchte und starrte in die dunkle Nacht; seine Lippen formten mannigfache Zitate, und ein großes Staunen lag auf seinem Gesicht. Dann ging er in sein Zelt, trat aber dann bald in seinem majestätisch-prachtvollen Schlafanzug wieder heraus, und als letztes hörte Gisborne ihn das Rukh anreden, und durch die Totenstille der schwarzen Mitternacht klang es mit dröhnender Stimme:
»Wir bedecken, verhängen, verhüll'n uns,