Rudyard Kipling - Gesammelte Werke. Rudyard Kipling
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»Das ist der ganze Zauber«, Mogli deutete auf seine drei Begleiter. »Der dicke Sahib wußte, daß wir, die wir unter Wölfen aufwachsen, auf Ellbogen und Knien laufen eine Zeitlang. Er befühlte meine Arme und Beine und begriff die Wahrheit, die du nicht kanntest. Ist das so wunderbar?«
»Wahrhaftig, noch wunderbarer ist es als Zauberei. Diese also trieben die Nilghais?«
»Ja, sogar Eblis, den Engel der Finsternis, würden sie treiben, wenn ich es sie hieße. Augen und Füße sind sie mir.«
»Dann nimm dich nur in acht, daß Eblis keine Doppelflinte führt. Sie haben noch einiges zu lernen, deine Teufel, denn einer hinter dem anderen stehen sie jetzt, und zwei Schüsse würden genügen, um sie alle drei umzulegen.«
»Recht, aber sie wissen, daß sie deine Diener sein werden, wenn ich erst Waldhüter bin.« »Hüter oder nicht, Mogli, du hast Scham und Schande über Abdul Gafur gebracht. Sein Haus hast du entehrt und sein Antlitz geschwärzt.«
»Schwarz war es ohnehin, als er dein Geld nahm. Und wurde noch schwärzer, als er vor kurzem dir ins Ohr flüsterte, einen nackten Mann zu töten. Ich selbst werde mit Abdul Gafur reden, denn ich stehe im Dienst der Regierung mit einer Altersrente. Er soll die Heirat vollziehen, in einer Form, die ihm beliebt, oder er wird wiederum gehetzt werden. Wenn der Morgen kommt, gehe ich zu ihm. Im übrigen, dort ist das Haus des Sahibs, und hier ist das meinige. Es ist Zeit, sich wieder schlafen zu legen.«
Mogli wandte sich um und verschwand im Grase – allein blieb Gisborne zurück.
Der Wink des Waldgottes war nicht mißzuverstehen, und Gisborne ging nach seinem Bungalow zurück, wo Abdul Gafur ihn rasend vor Wut und Angst empfing.
»Friedlich, friedlich«, beruhigte Gisborne und schüttelte den Mann, denn er sah aus, als könnte er jeden Augenblick einen Schlaganfall bekommen. »Müller Sahib hat ihn zum Waldhüter ernannt, und nun steht er im Dienst der Regierung und hat, wie du weißt, Anspruch auf eine Altersrente.«
»Paria ist er – ein Mletsch –, Hund unter Hunden, Aasfresser! Welche Rente wäre dafür hoch genug!«
»Allah weiß es; und du hast's gehört, daß das Unglück geschehen ist. Willst du es allen Leuten in die Ohren blasen? Richte schnell die Hochzeit, und das Mädchen wird ihn zum Muselman machen. Er ist sehr schön. Ist es ein Wunder, daß sie zu ihm lief, nachdem du sie verprügelt hast?«
»Drohte er, mich wieder hetzen zu lassen durch seine Tiere?«
»So schien es. Wenn er ein Zauberer ist, so ist er immerhin ein sehr mächtiger.«
Abdul Gafur sann einen Augenblick nach, dann brach er heulend zusammen, vergessend, daß er ein Muselman war.
»Brahmane bist du. Ich bin deine Kuh. Bringe die Sache in Ordnung und rette meine Ehre, wenn es noch möglich ist!«
Zum zweitenmal in dieser Nacht ging Gisborne in den schweigenden Wald und rief nach Mogli. Die Antwort kam hoch oben aus den Wipfeln der Bäume und in durchaus nicht unterwürfigem Ton.
»Rede anständig«, rief Gisborne und blickte auf. »Es gibt noch Mittel genug, dich zu zähmen und dich samt deinen Wölfen zu jagen. Das Mädchen kehrt sofort in das Haus ihres Vaters zurück. Morgen wird Schadi – Hochzeit – sein nach moslemischem Brauch. Dann kannst du sie mit dir nehmen. Bringe sie jetzt zu Abdul Gafur.«
»Ich höre.« Oben in den Zweigen war das Gemurmel zweier sich beratender Stimmen. »Also, wir wollen gehorchen, zum letztenmal.«
Ein Jahr später ritten Müller und Gisborne zusammen durch das Rukh und unterhielten sich über den Dienst. Bei den Felsen, nahe des Kanjeflusses, kamen sie aus dem Wald heraus; Müller ritt um eine Pferdelänge vor Gisborne. Im Schatten eines Dornbusches kroch ein nacktes braunes Kind herum, und aus dem Dickicht, unmittelbar dahinter, äugte der graue Kopf eines Wolfes. Gisborne hatte gerade noch Zeit, Müllers Büchse hochzuschlagen, und die Kugel schlug prasselnd in das Geäst darüber.
»Sind Sie von Sinnen?« donnerte Müller. »Sehen Sie gefälligst hin.«
»Ich sehe«, erwiderte Gisborne gelassen. »Die Mutter ist irgendwo in der Nähe. Sie werden das ganze Pack in Aufruhr bringen.«
Das Gebüsch teilte sich, eine unverschleierte Frau stürzte hervor und riß das Kind an sich.
»Wer hat geschossen, Sahib?« rief sie Gisborne zu.
»Dieser Sahib. Er dachte nicht an die Diener deines Mannes.«
»Dachte nicht. Aber das mag wohl sein, denn wir, die wir mit ihnen leben, vergessen ganz, daß sie fremde Geschöpfe sind. Mogli ist unten am Fluß und fängt Fische. Will der Sahib ihn sehen? Kommt heraus, ihr, aus dem Gebüsch und macht eure Reverenz vor den Sahibs.«
Größer und größer wurden Müllers Augen. Er schwang sich von der bäumenden Stute, indes die Dschungel drei riesige Wölfe auswarf, die Gisborne umschmeichelten. Die Mutter wiegte das Kind in den Armen und drängte die Tiere beiseite, wenn sie ihr die nackten Füße beleckten.
»Sie hatten ganz recht mit Mogli«, wandte sich Gisborne an Müller. »Ich wollte Ihnen schon immer davon erzählen, aber ich habe mich so an den Burschen gewöhnt in den letzten zwölf Monaten, daß ich es ganz vergaß.«
»Ach, nur keine Entschuldigungen«, erwiderte Müller. »Hat nichts zu sagen. Gott im Himmel! ›Und mit Geistesstärke wirk' ich Wunder auch‹ – und sie werden dann wahr.«
Aus Indiens Glut
Über die Grenze.
Für die Liebe giebt es keine Kaste
und für den Schlaf kein zerbrochenes
Bett. Ich ging aus, die Liebe zu
suchen, und verlor mich selbst.
Indisches Sprichwort.
Unter allen Umständen sollte jeder, was ihm auch begegne, zu seiner Kaste, Rasse und Art halten. Der Weiße halte sich zum Weißen und der Schwarze zum Schwarzen! Giebt's dann auch auf die eine oder andere Weise einen Anstoß, so verläuft doch alles innerhalb des Gewohnten; nichts Jähes, Unerhörtes, Ungedachtes stört unsere Kreise.
Hört die Geschichte eines Mannes, der eigenwillig die sicheren Grenzen und Wege der Alltagsgesellschaft überschritt und schwer dafür büßte.
Zum ersten wußte er zu viel, und dann sah er zu viel. Zu tief ging sein Interesse für das Leben der indischen Eingeborenen, aber nun ist er geheilt.
Ganz im Herzen der Stadt liegt Amir Nath's Gasse, die von einer nur durch ein einziges vergittertes Fenster durchbrochenen Mauer abgeschlossen wird. Am Anfang der Gasse steht ein großes Kuhhaus und weiterhin sind auf beiden Seiten die Mauern ohne Fenster. Weder Suchet Singh noch Gaur Chand, die Hausbesitzer rechts und links, halten es für gut, wenn ihre Frauen und Töchter in die Welt hineinblicken. Wäre Durga Charan derselben Meinung gewesen, er wäre heute ein zufriedener Mann, und die kleine Bisesa könnte sich ihr eigenes Brot kneten. Ihr Zimmer schaute durch das vergitterte Fenster in die enge dunkle Gasse hinaus, in die niemals die Sonne schien und wo sich die Kühe im bläulichen Kote wälzten. Sie war eine Witwe im Alter von etwa fünfzehn