Montag oder Die Reise nach innen. Peter Schmidt

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Montag oder Die Reise nach innen - Peter Schmidt

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aus. Manchmal verlief die schwarze Wimperntusche so in ihren Krähenfüßen, dass man glauben konnte, an ihren Augenwinkeln klebten kleine südamerikanische Skorpione.

      Sie war gerade mal dreiundfünfzig, aber ich fand, dass ihr die Arbeit im Parlament nicht bekam. Sie übernahm sich damit.

      »Hallo, wohin des Weges?«, erkundigte sie sich. »Wir essen gleich. Oder hat unser kleiner Outcast schon wieder die Nase voll von unserer Familie?«

      2

      Wenn ich das Nationalmuseum betrat, saß er meist auf seinem einfachen Holzstuhl an der Wand, dem Narrenschiff von Hieronymus Bosch gegenüber, das eine vielbewunderte Leihgabe des Louvre war. Es zeigt eine ziellos auf dem Meer schwimmende Barke, vollbesetzt mit Verrückten, die essen, trinken, musizieren, sich streiten.

      Einer klettert mit seinem Messer am Mast hoch, wo ein Braten hängt, doch keiner scheint auf den Gedanken zu kommen, bis zu dem an der Mastspitze angebundenen Strauch zu klettern, in dem eine Eule – der Vogel der Weisheit – sitzt.

      Trotz seines altmodischen Motivs schien es mir ein ganz modernes Gemälde zu sein, das einen tragischen Sinn für das Unglück des menschlichen Lebens offenbarte.

      Es war eines meiner Lieblingsbilder, nicht nur wegen der harmonischen, in feinsten Braun- und Beigetönen abgestimmten Farbkomposition und seiner an Karikaturen gemahnenden menschlichen Gestalten.

      Es war dieselbe Verlorenheit an die Welt, die ich auch in meiner Umgebung wahrnahm. Ich schlich mich jedes Mal mit einer undeutlich gemurmelten Entschuldigung aus dem Haus, wenn ich in die Galerie ging, denn fünf oder zehnmal dasselbe Museum zu besuchen, hätte mein Versprechen, mich einem handfesten Gewerbe wie dem des Physikers zu verschreiben, sofort als Lüge entlarvt.

      Ich weiß nicht, ob Montag – merkwürdigerweise hieß er wie der erste Tag der Woche – mich wiedererkannte.

      Er sah so freundlich lächelnd durch mich hindurch, als sei ich klares Glas. Einen Moment lang irritierte mich sein Blick, weil ich argwöhnte, ich könnte bereits die Physiognomie meines Vaters angenommen haben, der ebenfalls aus Glas war.

      Doch als ich weiterging, streifte ich diesen Eindruck ab wie einen lästigen Gedanken, den man denken konnte oder auch nicht. Es war lediglich eine Frage der Macht, die der Geist über seine eigenen Vorstellungen erlangte.

      In der Halle nebenan befand sich ein noch berühmteres Bild aus dem Prado in Madrid: Boschs Triptychon Der Garten der Lüste.

      Die Wanderausstellung mit seinen Bildern blieb nur für kurze Zeit in der Stadt, deshalb nutzte ich jeden unverdächtigen Augenblick, um soviel wie möglich davon aufzunehmen: das ganze Spektrum der Ausschweifungen, den Hexenkessel der Gefühle und Begierden, das Jüngste Gericht, die Höllenstrafen, die Todsünden, die Versuchungen mit ihren grausam-angstvollen Phantasien.

      Seine Gestalten waren Personifikationen von Lastern, Ausgeburten der Unterwelt in monströser Hässlichkeit. Abenteuerliche Tiergestalten dienten den Menschen als Reittiere. Liebende und sich vereinigende Menschen schwammen in Muscheln, waren in Früchten und gläsernen Käfigen gefangen. Teufel in Tiergestalt, Bestien, fratzenhafte Gnome verrichteten ihr erbarmungsloses Geschäft.

      Wuchernde Pflanzen (und immer wieder Erdbeeren, Erdbeeren für die sinnliche jungfräuliche Vulva), Fruchtblasen, überproportional abgebildete Tiere symbolisierten die verschiedenen Sünden und Vergehen: der Rabe den Unglauben, der Pfau die Eitelkeit, der Ibis, der die toten Fische fraß, vergangene Vergnügen.

      Frage ich mich heutzutage (als alter Klinikhase und mit einer gutgehenden Psychiatriepraxis), was mich damals an dieser Kunst faszinierte, dann scheint mir, als hätte ich in ihr all jene Probleme ins Bild gesetzt gesehen, die mich auch noch in späteren Jahren beschäftigten. Es ist gewissermaßen der »Rohstoff« unserer Verrücktheiten. Die Menschen schaffen sich ihre eigene Hölle.

      Aber bei meinen ersten Besuchen sah ich mich eher als lernbegierigen Schüler, der den alten Meistern ihre Geheimnisse ablauschte. Ich verstand die Themen, ohne ihnen sonderlich viel Gewicht beizumessen, es sei denn, in den dunkleren Tiefen meines Unterbewusstseins, dem Raum, der nicht ganz unbewusst, aber auch nicht hell bewusst ist.

      Oberflächlich interessierte mich mehr der Pinselstrich. Das geheimnisvolle Halbdunkel mit seinen Schattierungen, die gegeneinandergesetzte Farbe, die Deutlichkeit oder Undeutlichkeit der Konturen, das kleine Detail. Ich war von den Details in Bann gezogen, ohne das Ganze zu sehen. Das änderte sich erst, als ich Boschs verstecktes Selbstporträt entdeckte.

      Montag folgte mir nie wie ein gewöhnlicher Museumswächter durch die Säle der Galerie. Manchmal sah ich, dass er einer Schulklasse nachging, aber immer in gehörigem Abstand, um nicht zu stören.

      Dann stand er versunken da, die Hände vor dem Bauch übereinandergelegt, den grauen Kopf leicht geneigt, als lausche er irgendwelchen Stimmen aus der Tiefe des Raumes. Und wenn sich das Tross der albern kichernden Schüler mit den üblichen Schwierigkeiten in den benachbarten Saal bewegte, gab er einfach stumm nickend seine Verantwortung an den nächsten Wächter ab. Es verstärkte noch mehr den Eindruck in mir, dass ich irgendein gläserner Gegenstand für ihn war.

      Einmal stand ich vor Pieter Bruegels Die Blinden, einer Leihgabe des Nationalmuseums Neapel, und ließ so laut einen fahren, dass er wegen dieser Frechheit unwillkürlich den Kopf hätte wenden müssen.

      Aber er schien nicht nur blind zu sein für uns gewöhnliche Sterbliche – so blind wie die Gestalten auf dem berühmten Bild, die, lange Stöcke in den Händen, in die Luft blickend übereinander purzelten –, sondern auch taub. Ich gab einen noch krachenderen Ton von mir – ich furzte, was das Zeug hielt, bis mir die Luft ausging. Ohne Ergebnis.

      Ich fragte mich, was wohl passieren würde, wenn ich in die Ecke pinkelte, unter die Kordelabsperrung von Boschs Weltgerichts-Triptychon, einem der teuersten Gemälde der Welt. Würden dann die Sirenen losheulen und die halbe Stadt meinem Abtransport im vergitterten Polizeiwagen beiwohnen?

      Oder kam nur jemand von den dienstbaren Geistern wie auf einen geheimen Befehl mit dem Aufnehmer, um wortlos die Spuren meiner Schandtat zu beseitigen?

      Die Atmosphäre des Nationalmuseums bekam seit diesem Tage etwas Kafkaeskes für mich. Oder noch besser: Ich traute Montag zu, dass er sich wie ein Yogi durch die Sutren des Patanjali in die Lüfte erhob und zur gläsernen Kuppel des Saales emporschwebte. Mit oder ohne Stuhl. Er setzte die Schwerkraft außer Kraft, weil sie sich als etwas erwies, das nichts weiter als ein Spuk in unseren Köpfen war, eine durch Gewohnheit erzeugte Erwartung. Ich misstraute schon damals den Gesetzen der Physik.

      Wenn doch zugegebenermaßen keiner von den Herren Physikern zu sagen wusste, was die Schwerkraft wirklich war – »eine Krümmung des Raumes«, was für eine grandiose geistige Krücke, welche Worthülse für das Rätsel, um seine Unwissenheit mit ein paar mathematischen Formeln zu bemänteln! –, dann konnte sie auch jederzeit ihre andere, unbekannte Seite zeigen, die gewöhnlich verborgen war.

      Also floh ich an diesem kafkaesken Vormittag Hals über Kopf aus dem Museum, um nicht miterleben zu müssen, wie sich unser Universum langsam in seine erlogenen Bestandteile auflöste. Ich würde niemals Physiker werden. Dazu war ich zu schlau …

      Ich hatte bereits zuviel vom Baum der Erkenntnis gegessen, der unsere naive, so handfest erscheinende Alltagsrealität, die aus krümelartigen bewusstseinsunabhängigen Materiepartikeln bestehen soll, als bloßes Vorurteil entlarvte.

      Aber

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