DER TEMPEL. Michael Mühlehner
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Der Sturm wütete die ganze Nacht, und als am Morgen die schweren Winde nach Osten abzogen, bot sich ein Bild der Zerstörung.
Eine breite Schneise entwurzelter Bäume und zerfetzten Urwaldes spannte sich von den senkrechten Felswänden des Hochplateaus bis zu den Ausläufern der östlichen Kordilleren. Alles was sich darin befunden hatte, war vernichtet. Zerschmettert von den Titanenfäusten des Sturmwindes, vom prasselnden Hagelschlag, vom flammenden Blitzfeuer und vom bebenden Rumpeln der Erde. Eine riesige Sense aus Wind und entfesselter Elemente hatte die Bäume niedergemäht, der rumorenden Erde den Boden aufgerissen und peitschender Regen neue, tiefe Gräben und Furchen gegraben. Der Fluten des Rio Magdalena traten über die Ufer und überschwemmten das weite Umland, verwandelten es in eine sumpfbraune Moorlandschaft.
Es wurde von einem Taifun gesprochen, von einem Hurrikan der oberen Kategorie. Wie immer man das Unwetter auch klassifizieren wollte, es hatte das Samon-Tal hart getroffen.
Weiterhin fiel Regen, dampfte der Boden und klebte die schwülfeuchte Luft auf der Haut. Wasser gurgelte in tief ausgewaschenen Gräben durch das Camp der archäologischen Expedition und Böen brachten die Zeltplanen zum Knattern. Es knallte dabei, als würde irgendwo in der Nähe mit einer Elefantenbüchse geschossen werden.
Maeve Kilburn wischte sich das nasse Haar aus dem hübschen Gesicht und ließ nochmals ihren Blick über das Lager gleiten.
Nicht ein Zelt war unbeschädigt geblieben, von den provisorischen Behausungen der Träger ganz zu schweigen. Der Pferch mit den Lasttieren nur noch Trümmer, die Esel und Alpakas ausgebüxt. Schlimmer noch hatte es das Laborzelt mit der ganzen Technik-Ausrüstung erwischt. Es war in alle Winde zerstreut. Ty Jackson, der Computerspezialist, stampfte mit verweinten Augen durch den Schlamm und Dreck und wühlte mit den bloßen Händen im Morast, um noch Teile seiner Ausrüstung zu finden.
Maeve hatte ihm drei Arbeiter zur Seite gestellt, sie wusste, wie wichtig die elektronischen Geräte waren. Ein weiteres Zelt hatte als Magazin für die entdeckten Funde gedient. Die Arbeit von eineinhalb Wochen war binnen weniger Stunden zunichte gemacht. Gott sei Dank gab es keine Toten, der materielle Verlust war ohnehin enorm. Allerdings wurde ein Mann vermisst, der Wache beim Tempel gehalten hatte. Sentera, der ortskundige Führer und Verantwortliche für die Sicherheit, hatte bereits einen Suchtrupp zusammengestellt. Maeve wusste nicht einmal den Namen des Vermissten.
Schon seltsam, dachte Maeve Kilburn. Sie kannte die meisten Indios und Mestizen von Zino Tamperons Arbeitsgruppe, doch die Wachleute von Diego Sentera waren ihr fremd. Vermutlich, weil sie sich mit dem Kolumbianer nicht verstand.
Die Mahlan-Group hatte den Jäger und erfahrenen Dschungelführer angeworben. Dabei wusste jeder, dass Sentera auch für die Drogenkartelle arbeitete. Das schien aber niemanden zu stören. Die Mahlan-Group zeichnete gleichfalls dafür verantwortlich, dass kein Mediziner an der Expedition teilnahm. Ihr Geldgeber hatte eigene Vorstellungen, was die Ausrüstung einer Grabungsexpedition betraf.
Ein Umstand, den Maeve Kilburn sehr bedauerte. In den letzten Tagen hatten sich die Indios immer wieder über Übelkeit und Unwohlsein beschwert. Zino Tamperon, der Vorarbeiter, verfügte zwar über einige Kenntnisse, die ausreichten, um Schürfwunden und Insektenbisse zu behandeln. Doch der Krankheit, unter der seine Männer litten, stand er machtlos gegenüber. Die Hausmittelchen versagten hier völlig.
Maeve Kilburn, die zwei Doktortitel über südamerikanische Mesakulturen und lateinamerikanische Kultstätten ihr Eigen nannte, fungierte als Expeditionsleiterin und Archäologin. Promoviert hatte sie an der Miscatonic-Universität, ehe sie an das Misram-Institut wechselte. Der Rest ihres wissenschaftlichen Teams bestand aus zwei Experten, erfahrenen Südamerika-Forschern, sowie dem Computerspezialisten Ty Jackson, einem Tüftler, der aus einem Stück Draht und einer Zitrone ein kleines Atomkraftwerk basteln konnte. Momentan allerdings war er mit den Nerven runter. Seine gesamte Ausrüstung im Wert von einhunderttausend Dollar hatte sich in einer einzigen Nacht in Luft aufgelöst.
Überhaupt hatte die Mahlan-Group bei dieser Expedition auf Technik gesetzt. Vermutlich wollte man schnell zu einem Ergebnis kommen, was anfangs ja auch funktionierte.
Nach nicht einmal zwei Wochen Aufenthalt im Regenwald, fanden sie die Stufenpyramide. In einem alten Text aus dem frühen sechzehnten Jahrhundert, wurde sie erwähnt, die Überarbeitung der handschriftlichen Aufzeichnungen diente für die Expedition wie ein Kompass.
Mit Hilfe moderner Funkpeilung und dem Einsatz eines ultramodernen Sonargerätes konnte Jackson den Standort bestimmten. Die letzten paar Tage hatten sie damit zugebracht, das Bauwerk in schweißtreibender Arbeit aus den Klauen des Dschungels freizulegen.
Als Maeve Kilburn südwärts blickte, sah sie nur das Grün des Dschungels, und dahinter erhoben sich die zerklüfteten Felswände des Samon-Tales. Eine enge Kluft spaltete den Fels an einer Stelle und gab den Weg in einen schmalen Kessel frei. In dieser mit üppiger Vegetation ausgestatteten Seitenschlucht ragte aus der Mitte ein Tempel auf, erbaut von einem unbekannten Volk, das nach ersten Hinweisen weder den Inka noch den Maya zuzuordnen war. Die Steinquader waren uralt und grob bearbeitet, die Wurzeln von Bäumen und Sträuchern hatten dafür gesorgt, dass die Stufenpyramide sehr mitgenommen wirkte. Sie hatten das Alter noch nicht bestimmen können, die eingravierten Reliefs und Fresken, bestehend aus menschenartigen Köpfen und tierhaften Körpern, wurden von den Wissenschaftlern katalogisiert, allerdings noch nicht klassifiziert.
Ein kalter Schauer lief über den Rücken der rothaarigen Wissenschaftlerin. Die fünfstufige Steinpyramide hatte etwas an sich, das niemand genau definieren konnte. Im grauen Licht erschienen die Ecken und Kanten seltsam schief, die Winkel irgendwie falsch. Selbst die Farben wirkten unscharf. Untypisch war auch das Fehlen von Fenstern und Nischen. Der zyklopische Stein fügte sich fugenlos aneinander, ein gewaltiger Turm ohne sichtbaren Eingang, auf dessen abgeflachter Spitze ein Tempelhaus thronte.
Jedesmal, wenn Doktor Kilburn bei der Stufenpyramide arbeitete, fühlte sie sich beobachtet. Ein Gefühl, wie sie es noch nie erlebt hatte.
In Gedanken rief sie sich zur Ordnung. Sie konnte sich solche negativen Gefühle nicht leisten. Das Misram-Institut hatte sie zu dieser privaten Grabung abgestellt, weil Eric Mahlan, der Großindustrielle und leidenschaftliche Altertumsforscher, sie dafür anforderte. Mahlan zahlte an das Institut nicht nur ein horrendes Gehalt, sondern auch eine großzügige Spende.
Maeve wischte eine widerspenstige, rote Haarsträhne aus ihrer Stirn. Die unbekannte Stufenpyramide beherrschte ihr Denken. Eigentlich hatten sie heute nach einem Eingang suchen wollen, doch zuerst musste das Chaos im Camp behoben werden. Die Pyramide konnte ihnen nicht weglaufen, dafür allerdings die Zeit.
Die Grabungskonzession belief sich auf sechs Wochen. Eine beinahe unmöglich einzuhaltende Frist, wenn man bedachte, dass das Objekt der Grabung erst einmal gefunden werden musste. In ihrem Fall hatten sie Glück gehabt.
Sie drehte sich um und ging die wenigen Meter zum Verpflegungszelt. Der Geruch von frisch gebrühtem Kaffee stieg ihr in die Nase.
***
Maeve Kilburn blieb nicht viel Zeit, um ihre Gedanken zu sammeln. Sie hatte noch keinen Schluck aus dem Metallbecher genommen, als Diego Sentera das Zelt betrat. Er war ein großgewachsener Mann mit funkelnden, unruhigen Augen. Das unrasierte Gesicht war dunkel gebräunt, auf dem Kopf saß ein speckiger, jetzt nasser Hut. Der Kolumbianer trug die Kleidung eines Jägers, feste Stiefel, Khaki-Hosen und ein verschwitztes Hemd, darüber eine ärmellose Weste mit vielen Außentaschen. Patronen steckten in Stoffösen auf Brusthöhe. Um die Leibesmitte hatte er einen Waffengurt mit Messer und Pistolenhalfter gegürtet. Trotz des Nieselregens trug er keine Regenjacke.