Begegnungen mit Büchern. Stefan Zweig
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Der richtige Goethe
Welche Goetheausgabe, fragt sich mancher, soll ich mir wünschen, soll ich mir wählen? Einstmals, eigentlich ein halbes Jahrhundert lang waren die Auswahlausgaben am meisten begehrt, denn die frühere Generation sah in Goethe immer und einzig nur den Dichter und betrachtete seine naturwissenschaftlichen, seine philosophischen und geologischen Studien nur als lästige Schrulle des alternden Mannes, und erst das letzte Jahrzehnt hat eigentlich den Deutschen wieder die Ganzheit Goethes, diese einzige Summe von Leben, Tätigkeit und Werk gegenständlich gemacht. Die großen Biographien von Bielschowsky, Gundolf, Chamberlain, Emil Ludwig ließen mit einemmal so eine einzige Erscheinung als einen Kosmos betrachten, als durchaus organische Einheit, innerhalb der jede individuelle Betätigung ebenso naturnotwendig und gesetzhaft sich offenbarte als die bloß dichterische Produktion. So verwandelte sich mit zunehmender Erkenntnis des geistigen Umfangs auch die zunehmende Neigung, den ganzen Goethe zu besitzen, und eine Reihe von Ausgaben der letzten Jahre bieten die gleiche Erscheinung in den verschiedenartigsten Formen dar.
Welche nun ist die richtige, in welcher ist der wahre, der vollkommene Goethe am reinsten, übersichtlichsten und einheitlichsten erkennbar? Die Musterausgabe muß natürlich die sogenannte Sophienausgabe der Großherzogin von Weimar bleiben, die nicht nur alle Texte, Fassungen und Versionen gleichzeitig mit den Briefen und Urkunden bringt, sondern auch jede Wortdifferenz zwischen handschriftlicher Vorlage und Druck in den Anmerkungen sorglich festhält. Zwei Geschlechter von Goethe-Philologen haben daran ein Vierteljahrhundert gearbeitet und erst im Kriege den Schlußstein des weitausladenden Gebäudes gesetzt, eines Baues, wie ihn in Schönheit des Gegenstandes, in Fleiß und Sauberkeit der Ausführung kaum irgendeine andere Nation auch nur annähernd vergleichbar hat. Sicherlich wäre also die Sophienausgabe von den richtigen die richtigste, aber sie ist eben durch ihren Umfang den Meisten unerreichbar, denn sie umfaßt nicht weniger als 154 große Bände, füllt also für sich allein schon einen ganzen Bücherschrank und ist überdies bereits längst vergriffen, nur selten im Antiquariat vollständig und dann nur zu einem Phantasiepreis aufzutreiben. Ihr zur Seite trat die Großherzog Wilhelm Ernst-Ausgabe des Insel-Verlags, die einerseits die Vollständigkeit der Sophienausgabe erhalten, aber andererseits ihren Hauptmangel für den Gebrauch, nämlich die Unhandlichkeit glücklich beseitigen wollte. Sie verzichtet auf Anmerkungen, Einleitungen, Zeitbestimmungen und bringt nur den vollständigen, revidierten Text von sämtlichen Goetheschriften, mit Ausnahme der Briefe und Gespräche (die sich jetzt in gleicher Ausstattung frei anschließen). Durch die Anwendung des englischen Dünndruckpapiers ist es gelungen, das ganze gigantische Werk in 16 weichgebundenen Bänden zusammenzudrängen. Im Bücherschrank nimmt diese wundervolle Ausgabe kaum eine Reihe ein, und jeder einzelne Band ist ausgezeichnet geeignet, auf die Reise oder bei einem Spaziergang in der Tasche mitgenommen zu werden: so ist sie die richtige Ausgabe, um Goethe mit sich zu haben und doch ganz zu haben, während die Sophienausgabe die typische für öffentliche oder private Bibliotheken, für den Forscher und Ergründer darstellt. Eine dritte Ausgabe wiederum, die Propyläen-Ausgabe, ließ ein anderes Prinzip vorwalten, das zwar Goethe selbst einmal streng verpönt hatte, das aber doch einen unvergleichlichen psychologischen Reiz ausübt, nämlich die chronologische Anordnung. In dieser Ausgabe sind die einzelnen Werke nicht in Gruppen zusammengestellt, sondern nach dem Zeitpunkt ihrer Entstehung, und stärker als in jeder andern spürt man da nicht nur das Sein der Goetheschen Produktion, sondern auch das allmähliche Werden. Auch sie ist eine richtige Goetheausgabe, so verschieden sie von den anderen ist, und eigentlich hätte man Neigung, diese drei vorbildlichen Ausgaben, die gleichsam die Forschung, die Lektüre und seine Lebensentwicklung vorstellen, alle drei zu besitzen, was aber heute in der Zeit der Buchteuerung und der Wohnungsnot für einen Privaten einen wohl kaum erfüllbaren Wunsch bedeutet.
Nun kommt noch in schwerster deutscher Stunde eine vierte in ihrer Art mustergültige Ausgabe, bei Ullstein dazu, wiederum eine vollständige, aber wiederum eine nach einem anderen Prinzip geordnete. Sie übernimmt die chronologische Anordnung der Propyläen-Ausgabe, aber übernimmt sie doch nur innerhalb der einzelnen Gruppen. Sie bringt nicht wie in jener einzig die Zeit der Entstehung berücksichtigenden, Tagebuchblätter und Gedichte mit Dramen vermengt, sondern stellt erst innerhalb jeder einzelnen Gruppe im Drama, der Lyrik, Epik die einzelnen Werke in ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge dar. Sie läßt ebenso wie die Insel-Ausgabe die textkritischen Anmerkungen und Urformen der Handschriften weg, fügt aber ein neues Element bei, nämlich Einleitungen für jeden Band, und diese Einführungen sind vielfach von hohem Reiz. Es wurden so ziemlich die besten Dichter des gegenwärtigen Deutschland, die ersten Philosophen und Essayisten gewonnen, je einen Band mit einer Übersicht einzuführen: den Einklang gibt Gerhart Hauptmann, der gleichzeitig bescheidene und bedeutende Worte voranstellt, die zwar das Problem Goethes nicht formulieren wollen, aber gewissermaßen eine Heiligsprechung, eine ehrfürchtige Begrenzung des Namens bedeuten. Die eigentliche Gesamteinführung ist Georg Simmels Aufsatz ›Die Werte des Goetheschen Lebens‹ anvertraut, der sachlich, allzu sachlich die philosophischen Probleme erläutert und ihnen durch geistige Zusammenfassung höchsten Rang gibt. Bedeutend ist dann noch der unvergeßliche Aufsatz Hugo von Hofmannsthals, der den ›West-Östlichen Diwan‹, die subtilen Studien Hermann Bahrs, Hermann Hesses und Jakob Wassermanns die einzelne Prosabände einleiten, während die Aufsätze Eulenbergs und Cäsar Flaischlens für Lyrik und jene von Ernst Hardt über die Dramen nicht ganz an die Tiefe des Gegenstandes herankommen. Aber doch geben alle diese kurzen Vorklänge manchem Leser eine willkommene Einführung in die dichterische Sphäre und werden so sicherlich jenen, die nicht selbst ununterbrochen mit dem Goetheschen Problem als dem Zentralgestirn der deutschen Dichtung beschäftigt sind, vielfache Anregung geben. Bisher sind zwölf Bände dieser auch äußerlich handlichen und durchaus empfehlenswerten Ausgabe bei Ullstein erschienen, die das dichterische Werk schon ganz umschließen, und denen die nächsten acht Bände über Naturwissenschaft, Philosophie und Geologie bald nachfolgen sollen. Mit verdoppelter Bewunderung muß man auf diese Leistung hinweisen, da sie inmitten der schwersten und schwierigsten Verhältnisse entstanden ist und zu verhältnismäßig erschwinglichem Preise die Möglichkeit gibt, den ganzen Goethe zu genießen und sich zu gewinnen.
Für welche der einzelnen Ausgaben sich der einzelne entscheidet, welche er als die richtige empfinden wird, ist nun jedem anheimgestellt. Alle enthalten sie die ganze unübersehbare Fülle Goethes, und jede wird die richtige, sobald der einzelne daraus die Wesenheit des Gewaltigen ahnend, genießend, forschend und durchdringend für sich selbst gewinnt. Jede enthält das Ganze, jedem ist darin die unendliche Fülle gegeben, jeder vermag sich nun in persönlicher Wahl daraus sein zeitlich Teil anzueignen. Seinen richtigen Goethe, denn er ist so groß, der Gewaltige, daß wir immer nur eine Spur seiner Ganzheit für uns zu fassen vermögen.
Goethes Leben im Gedicht
Zum 28. August 1916
Ins furchtbar Gemeinsame verkettet, ist dem einzelnen für weniges jetzt die Seele ganz frei; der innere Tag, fast jedem ist er genommen vom äußeren Zwang, das gewohnte Tun dem liebsten Wunsch entfremdet und selbst dem Gefühl der reine Ausdruck verwehrt. Freude aus sich hochschweben zu lassen, wie geht es heute an, da der Blick sich umflort an der nahen Tragik einer selbstmörderischen Welt, und der Zorn wiederum, ihm ist das Wort verweigert und der Erbitterung die Sprache erwürgt. Gefangen im stählernen Netz der Zeit sind die Gefühle. In allem ist die Seele behindert und beschränkt, und nur einer Regung vermag sie sich freizuhalten, aber der besten vielleicht: der Dankbarkeit. Wenn jetzt zwischen den gepreßten Stunden eine noch klar und rein herüberglänzt in das Chaos des Geschehens, ihr dankbar zu sein, ist noch verstattet, und sie, die seltene, zu genießen, wird Pflicht und Rettung zugleich.
Solche, jetzt siebenfach kostbare Stunden danke ich