Ein Anfang am Ende des Hungers. Sylvia Baumgarten
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Читать онлайн книгу Ein Anfang am Ende des Hungers - Sylvia Baumgarten страница 6
Ich schluck, setz mich wieder auf und seh aus dem Fenster. Es regnet nicht mehr.
„Hast du schon Mathe gemacht?“, frag ich und schlag die Bettdecke zurück.
„Guck ich mir heute Abend noch mal an. Und du?“
„Ich auch“, sag ich und dann frag ich: „Hast du heute Nachmittag Lust auf Kino?“ obwohl ich gar nicht weiß, ob ich Lust auf Kino hab, aber Nina sagt sofort „Klar“, und klingt total erleichtert. „Halb vier am Eingang, ok?“
„Ok“, sag ich, „dann geh ich jetzt mal duschen …“
„… und frühstücken“, sagt Nina und ich sag: „Bis nachher“ und leg auf.
Ich schwing mich aus dem Bett und fahr den Rechner hoch. Doppelklick auf „ich-bin-hungrig“, die Seite geht auf und ich meld mich an … nichts … noch mal das Ganze … wieder nichts, dann ein Fenster: Das Forum ist von Samstag, 20.00 Uhr, bis Sonntag, 18.00 Uhr, geschlossen.
Was zur Hölle…?, denk ich genervt. Wieso machen die einfach zu? Und dann fällt mir ein, dass ich vorgestern noch gar nicht wusste, dass es ein Forum für Magersüchtige gibt, und dass ich da mal rumklicken würde schon gar nicht. Warum reg ich mich also auf?
Aber es könnte ja sein, dass jemand was zu meinem Beitrag geschrieben hat und nun muss ich warten bis Sonntag und das geht irgendwie gar nicht.
Ok – Alternative? Laufen? Lernen? Facebook? Unten röhrt der Staubsauger – meine Mum macht den Wochenendputz, danach gibt’s Frühstück. Laufen, denk ich. Wer nicht da ist, kann nicht frühstücken.
Im Schrank sind nur noch kurze Hosen – zu kalt, denk ich, egal – ich will laufen, jetzt, sofort!
Ich zieh ne Fließjacke drüber und warme Socken, dann geht das schon. Ich schleich mich aus dem Zimmer. Der Staubsauger läuft noch. Gut, denk ich – dann Schuhe an und nichts wie raus. Ich mach grad die Haustür auf, da geht der Staubsauger aus, und es ist still im Haus.
„Jule?“ Meine Mum. Am besten so tun, als hätt ich nix gehört – Tür zu und los.
Ich bin schon aus dem Garten, da geht die Tür wieder auf.
„Jule!“, diesmal klingt sie sauer – ziemlich sauer. Ich lauf weiter und spüre Stiche an den Beinen. Verdammte Kälte, denk ich, lauf schneller und krieg schon wieder Seitenstiche. Langsamer, denk ich, lauf langsamer. Ich versuch kräftig auszuatmen – jetzt bloß nicht stehen bleiben, dann lauf ich nicht wieder los.
Verdammt, verdammt, verdammt …Was für eine Scheiße! Geht hier eigentlich gar nix mehr? Ich atme ruhiger, die Seitenstiche gehen weg.
Kalt, denk ich, meine Füße und Beine sind wie tot, meine Hände auch. Ich lauf zurück, versuch den Schlüssel ins Schloss zu stecken, aber ich kann ihn nicht richtig festhalten. Er fällt runter, ich bück mich, da geht die Tür auf – meine Mum.
Ich greif nach dem Schlüssel, steh auf und er rutscht mir wieder aus der Hand. Diesmal hebt meine Mum ihn auf, greift nach meinem Arm, zieht mich in den Flur, macht die Tür zu, lehnt sich dagegen und guckt mich an. Wütend, denk ich, sie ist wütend, und warte, dass sie schreit.
„Jule, was soll das?“, sagt sie dann leise und ich hab Angst, dass sie erstickt, weil sie vielleicht lieber schreien würde, und überleg, ob ich was sagen soll oder lieber den Mund halte.
„Kannst du mir mal erklären, warum du hier bei dieser Schweinekälte halbnackt draußen rumrennst?“
Einen Augenblick ist es still, ganz still, und dann schreit sie doch:
„Jule, verdammt noch mal, rede mit mir!“
Ich guck sie an und es ist mir peinlich, dass meine Mum so die Fassung verliert. Meine Hände und Beine fangen an zu kribbeln. Ich will duschen und zu Nina.
Meine Mum legt sich die Hände vors Gesicht und dann fährt sie durch ihre Haare und kippt den Kopf in den Nacken. Ihre Lippen zittern und bestimmt brennen ihre Augen auch, denk ich, und dann klingelt das Telefon.
Ich überleg, ob ich los lauf und ran geh, aber meine Mum sagt: „Nicht jetzt.“ und als das Telefon aufhört zu klingeln, klingelt im Wohnzimmer ihr Handy. Ich hör am Klingelton, dass es ihr Redakteur ist und nun geht sie doch ran. Ich warte und hör wie sie sagt:
„Kann das nicht Andreas … ? Ach so … und wann? Ok, ich bin halb sieben da …“ und bevor sie wieder in den Flur kommt, renn ich die Treppe hoch direkt ins Bad, schließ die Tür ab, reiß mir meine Klamotten runter, mach das Wasser an und zieh den Vorhang zu.
Zu heiß, denk ich, als das Wasser über meine Arme und Beine läuft. Ich dreh die Temperatur zurück und stell mich komplett unter die Dusche. Das Wasser läuft und läuft und dann hör ich, wie meine Mum an die Tür klopft. Ich leg meine Hände über meine Ohren, aber ich hör trotzdem, dass sie „Jule“ ruft.
Irgendwann geht sie wieder, denk ich. Ich stell das Wasser aus und lausch – alles ruhig, na bitte. Ich greif nach dem Duschbad, verreib es zwischen den Händen und auf meinem Körper und spür meine Knochen - direkt unter meiner Haut.
Ich guck an mir runter und seh meine Kniegelenke. Sie sehen total riesig aus und mein Körper fühlt sich so hart an, als würde ich nur aus Knochen bestehen.
Ich hör auf, mich weiter einzuseifen, dusch den Schaum ab und greif nach meinem Handtuch. Mir ist immer noch kalt und ich wickel mich fest ein. Als ich aus der Dusche steige, stoß ich an die Waage und frag mich, wann ich mich eigentlich zuletzt gewogen hab. Ich stell mich gleich drauf, so wie ich bin, mit dem Handtuch, und dann seh ich die Zahl, mein Gewicht, und geh wieder runter. Ich setz mich hin, auf die Matte direkt vor der Dusche und starr die Waage an.
Es ist nur eine Zahl, denk ich, nur eine Zahl, Jule. Aber die Zahl ist ein Gewicht, mein Gewicht, und dafür ist sie zu niedrig.
Verdammt, wie spät ist es? Ich spring auf, trockne mich ab, föhn kurz meine Haare, mach mir nen Zopf und dreh den Schlüssel im Schloss. Ich warte kurz und lausch. Alles ruhig – und wenn meine Mum noch draußen steht? Vorsichtig mach ich die Tür auf, aber es ist niemand da. Ich husch in mein Zimmer, greif mir die Klamotten von gestern, zieh mich an, pack mein Handy und mein Geld in meine Tasche und geh die Treppe runter.
Meine Mum telefoniert.
„Thomas, ich bitte dich, lass mich mit deinen Erklärungen in Ruhe. Du hattest immer eine Erklärung für Überstunden und Dienstreisen … darum geht es doch jetzt gar nicht … Jule ist auch deine Tochter …“
Dad, denk ich, sie telefoniert mit meinem Dad.
„Moment mal Thomas … Jule?“
Ich zieh hastig Stiefel und Jacke an, nehm meinen Schlüssel vom Schrank, ruf:
„Ich geh ins Kino mit Nina“, zieh die Tür hinter mir zu und renn schon wieder durch den Garten zur Straße.
An der Bushaltestelle stehen jede Menge Leute. Ich stell mich dazu und denk, die starren mich an. Ich will in die Gesichter gucken, aber ich trau mich nicht, weil ich nicht weiß, wo ich hingucken soll, wenn sie echt