Zwischen Anfang und Ende. Helmut Lauschke
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Sie kamen in weniger als zwei Stunden nach Verlassen des Hofes wieder in Pommritz an, zu früh, als was sie sich von der Fahrt versprochen hatten. Auch Eckarts Mutter war über die frühe Rückkehr überrascht. Die drei Mitfahrer falteten ihre Decken zusammen und legten sie auf der Vorderbank des Pritschenwagens ab. „War der Herr Wittkopf nicht da?“, fragte sie den Sohn, der den dünnen Stapel Decken schon unterm Arm hielt. „Ist das alles?“, fragte sie gleich hinterher, ohne die Antwort auf die erste Frage abzuwarten. „Das ist alles“, antwortete Eckart der Mutter. „Kommt, setzt euch, ich mache einen Kaffee. Dazu gibt es frisch gebackenes Brot mit frischer Butter.“ Die Heimkehrer empfanden die Wärme, mit der Mutter Dorfbrunner sprach, und die Wärme in der Küche, die sie mit dem Duft des frisch gebackenen Brotes atmeten, als besonders wohltuend. Sie setzten sich an den Tisch, bekamen den frisch gebrühten Kaffee in die vor ihnen stehenden Tassen eingegossen und langten mit großem Appetit nach dem Korb mit den Brotscheiben, die sie mit Butter bestrichen, deren Bissen sie mit großem Genuss im Mund zerkauten.
Marga Dorfbrunner kam nicht darüber, dass sich der Gutsherr so kleinlich angestellt hatte. Sie verlangte nach mehr Information: „Hat sich denn auf dem Gut etwas Besonderes zugetragen, dass die volle Aufmerksamkeit von Herrn Wittkopf in Anspruch nahm? Er war doch sonst nicht so.“ „Ich weiß es nicht“, antwortete Eckart bedrückt. Da half ihm Heinz nach, der von den Fronarbeitern berichtete, die die Zufahrt zum Herrenhaus vom vereisten Schnee und den festgefrorenen Erdklumpen säuberten. „Der Wittkopf stand mit dem Parteiabzeichen an der grünen Jägeruniform wie ein Krösus auf der letzten Stufe vor dem Portal und sah wie ein Despot, umgeben von seinen beiden Doggen, auf die Arbeiter und uns auf dem Pritschenwagen, die wir uns in Decken gehüllt hatten, mit dem Bonzenblick der Dummheit herab. Von so einem, der dazu hohe schwarze Stiefel trug, habe ich nie eine menschliche Geste erwartet. Der kennt nur sich selbst und sonst niemanden.“ „Eckhard Hieronymus, sag, wie hast du das empfunden?“, fragte die Bäuerin. „Wenn ich es auf eine kurze Formel bringe, dann muss ich sagen, dass ich da gar nichts empfunden habe, weil es da nichts zu empfinden gab, was irgendwie menschlich gewesen wäre. Ich versuchte mich an die Erzählungen meines Großvaters zu erinnern, der von einem Gutsherrn mit Bildung sprach, dem das Wohlergehen anderer Menschen am Herzen lag.
Heute habe ich vom Pritschenwagen aus einen Gutsherrn vor dem Portal des Eingangs zu seinem Herrenhaus gesehen, der nur noch den Namen seiner Vorfahren trägt, dem ansonsten die von meinem Großvater erwähnte Bildung soweit abhanden gekommen war, dass er noch nicht einmal zu wissen schien, wie er sich richtig zu benehmen hatte.“ Marga Dorfbrunner machte ein ernstes Gesicht. Sie ließ sich die Schilderungen vom Gutshof und seinem Herrn durch den Kopf gehen. Sie stellte die zeitlich etwas vorgegriffene Frage, wie es dem Herrn Wittkopf gehen würde, wenn die Russen nach Pommritz kommen. „Das kann ich ihnen prophezeien“, sagte Klaus, „wenn die russischen Soldaten auf dem Gut die russischen Gefangenen antreffen, dann werden sie den Wittkopf gleich einsperren und nach Sibirien in ein Arbeitslager verfrachten. Denn bei Leuten, die ihren Profit durch die Fronarbeit der Gefangenen machen, werden sie kein Pardon kennen.“ „Und die Abrechnung kommt bald. Keiner wird ihr entgehen“, fügte Heinz hinzu. „Lasst uns nicht der Zeit vorausgreifen“, meinte Eckart, worauf Heinz sagte, dass man nicht weit vorausgreifen müsse, was bereits nahe zu greifen ist.
Am späten Nachmittag kam Wilhelm Theisen aus Bautzen zurück, wo er dringende Besorgungen zu erledigen hatte. Bauer Hohlfeld vom Hof des Nachbardorfes hatte ihn am frühen Morgen abgeholt, weil auch er Besorgungen in der Stadt zu machen hatte. So war Wilhelm Theisen beim Amt für Wohnraumbeschaffung zur Unterbringung von Flüchtlingen, wo er dem zuständigen Beamten, einer Frau der Endvierziger, mitteilte, dass auf dem Hof drei Flüchtlinge aus Breslau untergebracht seien. Klaus und Heinz erwähnte er nicht, da ihr Dasein nach deren eigenen Schilderungen illegal sei und mit einer Katastrophe enden würde, wenn sie von Amts wegen gefasst würden.
Wilhelm schilderte die Frau als eine verbissene Nationalsozialistin, die das Parteiabzeichen an ihrer Jacke trage und im Amtszimmer das eingerahmte Großfoto des „Führers“ hinter Glas hängen habe. Sie wollte alles genau wissen. So musste er eine Art Baubeschreibung von Haus und Hof geben, aus der die Anzahl der Zimmer ersichtlich wurde. Als sie die Zimmerzahl an den Fingern abzählte, dabei die Küche mit dazu zählte, wunderte sie sich, dass sie zum Zählen nur vier Finger der rechten Hand benötigte. Weil sie es genau wissen wollte, fragte sie noch einmal, wie viele Personen auf dem Hof lebten. Bei Weglassung von Klaus und Heinz aus Sicherheitsgründen gab er die Zahl ‘6’ an, drei vom Hof und drei aus Breslau. Die Amtsfrau schaute ihn mit dem gewohnten Blick des Misstrauens an und fragte, wie denn sechs Personen in vier Räumen schlafen würden, wenn sie die Küche dabei mitgezählt habe. Offenbar hatte sie den Verdacht, wenn auch fälschlicherweise, des Betrugs, durch Angabe von mehr Flüchtlingen, um mehr Lebensmittelkarten zu ergattern. Er habe ihr die Wahrheit gesagt, dass die schlesischen Flüchtlinge ihre Schlafstellen auf dem Heuschober der Scheune hätten. Sie wollte es erst nicht glauben und stellte die deutsche Gewissensfrage, ob sie den Inspektor schicken solle, um diese Angaben zu überprüfen. Er habe ihr bei dieser Frage gelassen ins Gesicht geschaut und gesagt, dass es ihr freistünde, dies zu tun, wenn sie es ihm nicht glauben wolle. Auf die Reaktion auf ihre Frage, die für sie die Gretchenfrage war, hellte sich ihr Gesicht auf. Sie sagte, dass sie es nun glauben würde und stellte die entsprechende Bescheinigung aus, unterschrieb sie und drückte ihr den Stempel auf, womit nun die Lebensmittelkarten beschafft werden können. Wilhelm Theisen berichtete, dass an den Pfeilern der Spreebrücke Kästen mit Dynamit befestigt und rund um die Stadt Schützengräben von Kriegsgefangenen und Häftlingen aus dem Zuchthaus „Gelbes Elend“ unter Bewachung der ‘SS’ ausgehoben würden. Er habe keinen Zweifel, dass die Vorbereitungen für den Endkampf nun bis an die Spree reichen und es nur eine Frage der Zeit sei, dass Bautzen zur Festung erklärt würde.
Die Schilderung löste Bedrückung auf die Gemüter am Tisch in der warmen Küche des Pommritz’schen Hofes aus. „Damit musste doch gerechnet werden“, sagte Klaus, „dass jeder Quadratmeter Boden gegen die russische Invasion verteidigt würde. Denn Berlin ist nicht mehr weit, dem die russischen Armeen näher sind als die Armeen der Westalliierten. Da wird das Letzte noch zertrümmert werden, was die Bomber nicht zertrümmert haben.“ „Das hört sich ja schrecklich an“, sagte Luise Agnes. Alle machten ein besorgtes Gesicht. Keiner wusste einen Rat, wie aus dem Dilemma herauszukommen war. Sie wussten es, dass alle im selben Boot saßen, das als das deutsche zum Untergang verdammt war. Eckhard Hieronymus dachte an die Sätze des tapferen Pfarrers Rudolf Kannengießer in der Deutschstraße 25 in Breslau, der am Dachfenster stand und die drei russischen Tiefflieger auf sich zufliegen sah, die ungestört über Breslau aus den Maschinengewehren wild ihre Salven auf die Zivilbevölkerung schossen, die mit den Fluchtvorbereitungen zugange war, der sagte, dass das nun das Ende sei.
Er sagte weiter, dass die Nazimäuler bald schweigen und irgendwo untertauchen und die Verantwortung für das klägliche Ende mit der großen Katastrophe auf die Menschen abwälzen werden, die dafür nicht ganz schuldlos sind, weil sie dem Teufel zur Macht verhalfen und zum Teufelswerk geschwiegen und noch mitgemacht anstatt dagegen protestiert zu haben. Eckhard Hieronymus sah das ernste Gesicht des Pfarrers so klar vor sich wie am Tage des Abschieds, als er neben ihm vom Fenster seiner kleinen Dachwohnung den Überflug der russischen Tiefflieger verfolgte. Da sagte Pfarrer Kannengießer noch, dass es für ihn unfassbar sei, wie die braunen und anderen Horden mit dem deutschen Volk umgegangen seien, dass es so gequält und geschunden wurde. Unter dem Schlussstrich fasste er zusammen, dass die Arroganz vor den Fall komme, nicht aber die unzählbaren Toten zum Leben zurückkehren. Besonders bedrückend waren für Eckhard Hieronymus die letzten Sätze, die dieser mutige Pfarrer zum Abschied sagte: “Was in den Konzentrationslagern geschehen ist, das bleibt vor der Welt unentschuldbar. Allein dafür werde dem armen deutschen Volk das Brandzeichen des barbarischen Verbrechens auf die Stirn gedrückt werden, das da nicht mehr wegzukriegen ist.”
Das Telefon klingelte. Eckart eilte in den Nebenraum und nahm den Hörer ab. Er kam zurück und sagte, dass es die Mutter Dorfbrunner aus Dresden sei, die ihren Sohn sprechen möchte. Eckhard Hieronymus gab seinem Kreislauf den Adrenalinstoß und eilte mit rotem Kopf zum Telefon.