Ein undurchsichtiger Gentleman.. Catherine St.John
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Читать онлайн книгу Ein undurchsichtiger Gentleman. - Catherine St.John страница 9
„Haben wir eigentlich noch viel in London zu erledigen?“, fragte sie also aus dieser Stimmung heraus und prompt runzelte ihre Mutter die Stirn. Annabelle konnte das im Dunkel des Wagens zwar nicht sehen, aber der eindeutig verschnupfte Ton verriet ihr genug: „Gefällt dir nicht, was wir dir hier bieten?“
„Doch, natürlich, sehr sogar“, beeilte sie sich sofort zu versichern, „auch das Theaterstück war ausgesprochen amüsant. Und heute haben wir doch wirklich wundervolle Dinge eingekauft.“
„Was stört dich denn, Belle?“, fragte John mit sanfter Stimme, die sie an die Zeiten erinnerte, als er sie noch wegen aufgeschlagener Knie oder weggelaufener Kätzchen getröstet hatte.
„Ich kann es nicht so recht sagen“, gab sie zu, „aber ich habe ein unheimliches Gefühl…“
Lady Horbury schnaubte auf unnachahmlich damenhafte Weise. „Unheimlich? Kind, das ist albern! Was soll hier unheimlich sein? Eins der vornehmsten Hotels Londons? Das Theater? Die noblen Geschäfte? Man könnte meinen, wir seien in ein halbverfallenes Gemäuer aus dem Mittelalter gereist!“
John lachte schallend. „Mama, ist so etwas deine bevorzugte Lektüre? Schauerromane aus den Neunziger Jahren, als du ein Küken wie Belle warst?“
„Sei nicht so frech zu deiner alten Mutter! Annabelle, was hat dir denn dieses unheimliche Gefühl gegeben?“
Ihre Tochter begann zu überlegen. „Das Hotel ist es nicht – obwohl, ein wenig vielleicht doch. Ja, und das Theater – und die Oxford Street? Ja, die auch – ein wenig. Ich weiß es doch selbst nicht!“
„Hm“, brummte John. „Ich werde logisch darüber nachdenken, was diese drei Örtlichkeiten gemeinsam haben könnten. Wart ihr nicht auch bei Gunter´s?“
Annabelle nickte. „Das gehört auch dazu, glaube ich.“
„Du bekommst kein Eis mehr“, verfügte ihre Mutter, immer noch pikiert, als der Wagen seine Fahrt verlangsamte. „Es scheint dir gar nicht gut zu bekommen! Morgen werden wir noch einige Tageskleider bestellen und einen Blick in den Pantheon Bazar werden – einen kurzen Blick! Danach können wir, wenn es dir Recht ist, John, auch wieder nach Hause fahren. So weit ist es ja glücklicherweise auch nicht.“
Kapitel 6
Tatsächlich war Annabelle sehr erleichtert, als sie am späten Nachmittag des nächsten Tages wieder in ihrem eigenen Zimmer stand. Alles war so, wie sie es liebte – sicher, das Hotel hatte sie mit allem erdenklichen Luxus umgeben, aber dennoch…
Wenn sie nur wüsste, was sie so verunsichert hatte! Morgen konnte sie Susan besuchen und ihr erzählen, was ihr in London alles widerfahren war – vielleicht konnte Susan ihre Verwirrung aufklären?
Die Stadt war imposant – und stellenweise auch recht hübsch. Die Luft allerdings hatte sie fürchterlich gefunden! Bei diesem Gedanken öffnete sie das Fenster weit und atmete tief durch, während sie über den Garten hinweg die Felder und am Horizont die sanften Hügel betrachtete. Herrliche frische Luft, herrliche Landschaft, ein herrlicher Blick! Nein, in London wollte sie nicht leben.
Gut, einige Tage, um einzukaufen, ins Theater zu gehen und sich ein, zwei Mal im Park oder gar auf einem Ball sehen zu lassen – aber nicht mehr!
Nicht einmal dieser imaginäre Ball reizte sie so besonders: fremde Menschen, übertrieben aufgeputzt, die über jeden klatschten und Gerüchte verbreiteten, überhitzte Räume, ein furchtbares Gedränge… Sophia und Hester hatten da schon einiges zu erzählen gehabt.
Nein, mochten die Wentworth-Mädchen genauso wie Susan die wildesten Dinge über ihr Debut erzählen, sie bereute nicht, dass sie darauf verzichtet hatte. Wozu auch ein Debut, wenn sie doch mit achtzehn schon gewusst hatte, dass sie Stephen heiraten würde? Er allerdings hatte das noch nicht gewusst, musste sie vor sich selbst zugeben. Kein Wunder freilich, denn mit siebzehn und achtzehn war sie noch eine rechte Nervensäge gewesen. Nervtötendes Geplapper, hatte John mehr als einmal gesagt und ihr gedroht, ihr eigenhändig den Hals umzudrehen, wenn sie nicht endlich still sein wollte.
Dann hatte sie tatsächlich einmal darauf geachtet, weniger zu reden – und vor allem vorher nachzudenken. Prompt hatte John gefunden, sie sei eigentlich gar nicht so dumm und lästig, möglicherweise werde sie ja endlich erwachsen?
Und Stephen hatte überrascht geblinzelt, auf kleinen Parties in der Nachbarschaft immer öfter mit ihr getanzt und sie schließlich einmal im dunklen Garten von Norton House sehr aufregend geküsst…
Sie seufzte glücklich bei der Erinnerung. Ja, und dann hatte er sie gefragt, ob sie vielleicht gerne Mrs. Norton werden wollte.
Natürlich wollte sie!
Gut, Mama hatte zunächst Einwände vorgebracht – Annabelle sei doch so hübsch und auch nicht gerade mittellos, da müsste sich doch ein vornehmerer Gemahl finden lassen? Wenigstens ein Viscount? Vielleicht in London? Papa aber hatte das albern gefunden – Stephen sei genau der Richtige für seine Tochter, er verstehe etwas von der Landwirtschaft, habe einen guten Charakter und könne die liebe Annabelle gewiss glücklich machen. Darauf schließlich komme es doch wohl an? Außerdem werde Stephen doch nach seinem Vater auch der nächste Baron Norton!
Dem hatte Mama schlecht widersprechen können, also stimmte sie der Verlobung zu und hatte sich mittlerweile recht gut damit abgefunden. Und Stephen war ja ein so reizender Mann, der auch seiner künftigen Schwiegermutter so nett begegnete…
Wenn sich hier auf dem Land alles so gut gefügt hatte, warum dann also nach London fahren?
Und der entzückende Brief von Melinda, nun Lady Hertwood (und in Erwartung eines Erben!) hatte Annabelle in dieser Ansicht nur bestärkt. Nicht nur Melinda hatte ihren Sebastian auf dem Land gefunden – Cecilia Herrion hatte sich schließlich gerade erst mit Melindas Onkel, dem neuen Viscount Lynet verlobt, den sie doch auf Herrion in Berkshire schon kennengelernt hatte. Also wurde London ja wohl überschätzt!
Dieser neue Viscount Lynet war in der ganzen Gegend beliebt, weil er seinen Besitz mit dem gleichen Eifer wieder aufbaute wie sein wenig betrauerter Vorgänger ihn ruiniert hatte. Margaret, die Dowager Viscountess, und die lustige kleine Jane waren des Lobes voll und zeigten sich nun auch viel mehr in der Öffentlichkeit.
Wirklich, diese Ecke von Kent war das reinste Paradies und sie durfte hier leben, bald mit dem Mann, den sie liebte und der schließlich, wie Papa argumentiert hatte, um Mama zu beruhigen, eines hoffentlich fernen Tages auch Lord Norton sein würde und sie damit Lady Norton! Nein, sie war wirklich wunschlos glücklich, nur wusste sie immer noch nicht, was sie an London irritiert hatte. Und wenn sie John fragte? Er würde wenigstens nicht von mangelnder Dankbarkeit sprechen, wenn sie zugab, dass ihr an London etwas nicht gefallen hatte!
Sie eilte durch das ganze Haus, um ihn zu finden, und entdeckte ihn schließlich in den Stallungen, wo er zusammen mit dem Stallmeister den Hinterhuf eines Fuchsjährlings inspizierte. Als sie eintrat, sah er auf und Tom Brady verbeugte sich höflich. „Miss Horbury…“
„Mr. Brady, einen guten Tag“, antwortete sie recht förmlich. „John, wenn du hier fertig bist, hätte ich dich gerne kurz gesprochen.“
John ließ den Fuß des jungen Hengstes sinken. „Wir sind eigentlich schon fertig. Tom, versuch´s zunächst