Vorsicht Schule. Regine Wagner-Preusse
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Oder Julian, der nicht rechnen kann. Dafür ist er sprachbegabt und spielt wunderbar Klavier „Geben Sie sich keine Mühe, ich kapier den Dreisatz nicht“, hat er neulich gesagt. „Sagen Sie mir einfach, welche Zahl auf und welche unter den Bruchstrich kommt.“ Er hat die Prüfung geschafft, Rechnen und Buchführung mit einer Drei. Dabei hatte er bestenfalls mit einer Vier gerechnet.
Daniel war lange in der Psychiatrie. Nachdem er im Jurastudium gestrandet ist, will er jetzt einen Beruf, der ihn erdet. Das Schulpensum für die dreijährige Ausbildung, das schaffte er in drei Monaten. Es macht einfach Spaß, diese Schüler zu fördern. Sie sind motiviert, bereit, sich einzulassen und mit mir an ihren Defiziten zu arbeiten. Die angehenden Kaufleute arbeiten mit und bedanken sich schon mal nach einer Unterrichtsstunde.“
„Ich unterrichte zur Zeitzurzeit eine achte Klasse in einer Förderschule.“
„Förderschule?“
„Das ist Verbalkosmetik. Die Förderschulen hießen früher Sonderschulen. Meine Schüler sind sehr nett, gar nicht aufsässig. Sie haben eine Lernbehinderung und brauchen mehr Zeit für den Unterrichtsstoff. Damit komme ich zurecht.“
„Ich habe gerade den Anrufbeantworter abgehört. Da sucht eine Schuldirektorin eine Krankeitsvertretung für Deutsch.“
Caspar-Max hat sich wieder einmal Arbeit mit nachhause gebracht. Die Tür zum Garten ist offen. Im Apfelbaum singt eine Amsel für seine Liebste. Der Hund döst im Gras, die Katze lauert angespannt nach Mäusen und Vögeln. Hier kann Caspar-Max in Ruhe arbeiten. Kein Mandant ruft an, kein Gerichtstermin.
„Das ging aber schnell. Hast du nicht erst letzte Woche deine Bewerbung weggeschickt?“
„Dass die so dringend suchen, damit habe ich auch nicht gerechnet. Deutsch und Geschichte in einer Gesamtschule. Das wäre doch etwas. Kinder und Jugendliche sind originell und lebendig. Ich kann Entwicklungen anstoßen und unterschiedlich begabten Kindern helfen, sich zu entfalten.“
„War Staatsschule für dich nicht der blanke Horror? Deshalb hast du doch gekündigt, damals vor 20 zwanzig Jahren.“
„Es hat sich viel verändert. Seit dem Pisa-Schock wurde sehr viel Geld in den Bildungssektor investiert und vor allem sind heute die Lehrer anders. Diese autoritären Lehrer vom alten Schlage, die mir damals das Leben in der Schule schwer machten, die gibt es nicht mehr.“
„Na, denn – vom Geld her wäre es auch nicht schlecht. Du weißt ja, was bei mir los ist. Und der Hungerlohn bei deinem Verein, das ist ein Skandal.“
Die Dorfschule
„16 Uhr 30 am Haupteingang. Ich brauche keine Wegbeschreibung. Ich kenne mich aus im Dorf, eine Freundin meiner Tochter wohnte in der Nähe der Dorfschule.“
Elisabeth ist mit dem Auto unterwegs. 40 vierzig Kilometer nur Landstraße. Hier gibt es keine Autobahn auf Elisabeths neuem Schulweg ab morgen. Sie liebt diese Gegend. Die Straße führt durch ein Tal inmitten von grünen Wiesen, die nach Heu duften. Pferde weiden, Kühe dösen im Schatten eines Baumes, Schafe bilden eine keilförmige Verteidigungsformation, weil ein Hund am Zaun entlang springt. Es geht durch Dörfer mit Fachwerkhäusern, durch schattige Wälder den Berg hinauf.
Die Schule liegt am Rande des Ortes, ein gemütlicher Bau aus den Fünfzigern, umstanden von Bäumen, im Hintergrund Wald. Das spitze rote Giebeldach, der weiße Putz und die langen Fensterreihen mit den grünen Fensterläden aus Holz, das wirkt freundlich und einladend. Elisabeth wartet vor dem verschlossenen Haupteingang. Kein Konrektor in Sicht.
„Sie stehen vor der Grundschule. Die Verwaltung finden Sie dort nicht. Ich hole Sie ab.“
„Beschreiben Sie mir doch einfach den Weg.“
„Zu kompliziert. In zehn Minuten bin ich bei Ihnen.“
Herr Keil führt Elisabeth in den Oberstufenbereich. „Am besten gehen Sie zu Fuß, die Parkplätze oben sind knapp.“ Sie gehen durchs Dorf. Die Oberstufe ist anderswo und sieht anders aus: Klinkerbauten mit Flachdach und betonierte Hofflächen laden nicht zum Spielen ein, und das ist gut so.
Die Schule platzt aus allen Nähten. Die Schulhöfe sind zu klein, deshalb dürfen sich die Schüler in der Pause auf den Fluren in den Gebäuden aufhalten. Ohrenbetäubender Lärm, versiffte Toiletten beherbergen die heimlichen Raucher. Graue Steintreppen, schadhafter grauer PVC-Boden, kahle Wände, zu großeselbst die größten Klassenräume sind für die Riesenklassen immer noch zu klein. Die Ausstattung: hässlich, trostlos, die obligatorische Tafel, verdreckte Bänke und Tische – geputzt wird nur noch einmal die Woche. Sparmaßnahme. Unter der Woche sind die Schüler gefordert. Eine Seite Fensterfront gibt den Blick auf Berge und Wiesen frei. Das Lehrerzimmer fensterlos, fahles Licht von der Decke, permanenter Sauerstoffmangel, Teppichboden, zwei lange Tische, Polsterstühle, jeder hat seinen Platz, sein Fach – auf dem Flur das Gekreische der Kinder in der Pause.
So eine Schule dürfte es nicht geben. 1700 Schüler von Klasse eins1 bis 13dreizehn. Lernfabrik. Die Schüler werden mit Bussen heran- und weggekarrt. Drei Lehrerzimmer für 150 Lehrer. Lehrerzimmer wie die Abflughalle eines Flughafens. An den Wänden Monitore, die über kurzfristig geänderte Vertretungs- und Raumpläne informieren. Alle Lehrer kann man nicht kennen, nur jene, mit denen man etwas zu tun hat, bei Klassenkonferenzen, bei Konfliktgesprächen über schwierige Schüler.
Immer öfter müssen die Schüler hier den ganzen Tag ausharren, von 8 bis 16 Uhr. Damit sie das aushalten, wurde eine Cafeteria gebaut, Glas und Beton, aggressiv -rote Stahlträger, PVC auf dem Boden, was sonst. Mittagstisch, Massenverpflegung: Fahlbraune, fade Schnitzel, abgestandene Kartoffeln, verkochte Nudeln, Altöl-Pommesgeruch. Warteschlangen an der Essensausgabe. Laut, viel zu laut. Das deckt keine Lärmschutzverordnung.
Lehrergrillen
Die Straße schraubt sich den Berg hinauf durch den Wald. Flirrendes Licht fällt durch das Laub der Bäume, deren Schatten Kühle spenden an diesem heißen Sommertag. Hier ist Elisabeth schon oft entlang gefahren. Zusammen mit Lene, als diese noch keinen Führerschein hatte. Zum Reitstall, weil Lene ihr Pferd versorgen musste. Täglich nach der Schule 30 dreißig Kilometer.
Und weil nur der Reitlehrer dort in Frage kam. Später hat Lene bei der Stallarbeit geholfen. Dafür erhielt sie Reitunterricht. Kostenlos. Elisabeth liebte diese Strecke, vor allem an Sonntagen im Sommer, um 4 Uhr morgens, wenn sie Lene zum Turnier fuhr. Nie wieder hat sie solche Sonnenaufgänge gesehen.
An diesem Sommerabend ist sie alleine unterwegs zum Lehrergrillen in einer Grillhütte mitten im Wald, ganz in der Nähe von Lenes ehemaligem Reitstall.
Solche Kontakte müssen sein, sich einlassen, kommunizieren. Das ist Schmierstoff im Schulgetriebe.
Zuerst ein Vortrag in der Grillhütte.
Benni, der Musik- und EDV-Lehrer, lächelt freundlich in Elisabeths Richtung. Da setzt sie sich jetzt mal hin.
Das