Nostromo. Joseph Conrad
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Einzig auf diese Weise machte die örtliche Obrigkeit ihre Autorität unter der geschlossenen Masse der starkgliedrigen Fremden geltend, die die Erde umgruben, die Felsen sprengten und die Maschinen führten – alles für das »fortschrittliche und patriotische Unternehmen«. Mit eben diesen Worten hatte achtzehn Monate zuvor der Eccellentissimo Senor Don Vincente Ribiera, der Diktator von Costaguana, in seiner großen Rede aus Anlaß des ersten Spatenstiches der Nationalen Zentralbahn gedacht.
Er war eigens nach Sulaco gekommen, und nach der Feierlichkeit an Land hatte die O. S. N. Kompagnie an Bord der Juno ein großes Mittagessen gegeben, ein Convité. Kapitän Mitchell hatte persönlich den Leichter gesteuert, der, reich mit Flaggen geschmückt, im Schlepptau der Dampfbarkasse der Juno den Eccellentissimo von der Landungsbrücke zum Schiff gebracht hatte. Jedermann von einigem Ansehen in Sulaco war geladen gewesen – die ein oder zwei fremden Kaufleute, alle Vertreter der alten spanischen Familien, die sich in der Stadt aufhielten, die Großgrundbesitzer von der Ebene, ernste, artige Biedermänner, Caballeros von reiner Abstammung, mit kleinen Händen und Füßen, konservativ, gastfrei und gütig. Die Westliche Provinz war ihre Hochburg: ihre Blanco-Partei hatte gesiegt, es war ihr Präsident-Diktator, ein Blanco unter den Blancos, der da höflich lächelnd zwischen den Vertretern zweier befreundeter fremder Mächte saß. Die waren mit ihm von Sta. Marta gekommen, um durch ihre Gegenwart das Unternehmen zu ehren, an dem das Kapital ihrer Länder beteiligt war. Die einzige Dame in der Gesellschaft war Frau Gould, die Gattin von Don Charles Gould, dem Administrator der San-Tomé-Silbermine. Die Damen von Sulaco waren nicht fortschrittlich genug, um in diesem Maße am öffentlichen Leben teilzunehmen. Sie hatten sich an dem großen Ball in der Intendancia, am Abend zuvor, stark beteiligt; doch Frau Gould allein, ein lichter Fleck in der Gruppe von schwarzen Gehröcken hinter dem Präsidenten-Diktator, war auf der mit rotem Tuch ausgeschlagenen Tribüne erschienen, die unter einem schattigen Baum am Hafenkai errichtet worden war und wo der feierliche erste Spatenstich stattgefunden hatte. Sie war auch mit all den Honoratioren in den Leichter gestiegen und war unter dem Flattern bunter Flaggen auf dem Ehrenplatz neben Kapitän Mitchell gesessen, der steuerte; ihr helles Kleid brachte die einzige wahrhaft festliche Note in die düstere Versammlung in dem langen Prunksalon der Juno.
Der Vorsitzende des Verwaltungsrats der Eisenbahngesellschaft (aus London), mit einem schönen Gesicht, das blaß aus der silbrigen Umrahmung des weißen Haares und eines gestutzten Barts leuchtete, neigte sich aufmerksam, lächelnd und müde ihr zu. Die Reise von London nach Sta. Marta, in Postdampfern, und die Spezialwagen auf der Küstenlinie von Sta. Marta (der einzigen Bahnlinie bis dahin) waren erträglich gewesen – ganz lustig sogar – wirklich erträglich. Die Reise über das Gebirge nach Sulaco aber, in einer alten Oberlandkutsche, über unwegsame Straßen, am Rand grausiger Abgründe hin – die natürlich hatte wesentliche andere Ansprüche gestellt.
»Wir haben zweimal an einem Tag hart am Rand sehr tiefer Schluchten umgeworfen«, erzählte er Frau Gould leise. »Und als wir schließlich hier ankamen, da weiß ich wirklich nicht, was wir ohne Ihre Gastfreundschaft angefangen hätten. Wie dieses Sulaco doch aus der Welt ist! – Und dabei ein Hafen! Erstaunlich!«
»Oh, aber wir sind sehr stolz darauf! Es hat in der Geschichte eine große Rolle gespielt. Während der Herrschaft zweier Vizekönige war hier der Sitz des höchsten geistlichen Gerichts«, belehrte sie ihn lebhaft.
»Sie sehen mich erschüttert. Ich dachte nicht an Herabsetzung. Sie scheinen sehr patriotisch.«
»Man kann den Ort wirklich lieben, und wenn nur seiner Lage wegen. Sie wissen vielleicht nicht, eine wie alte Einwohnerin ich bin.«
»Wie alt: wohl, möchte ich wissen«, murmelte er und sah sie mit leichtem Lächeln an. Frau Gould erschien jung durch die Klugheit ihres beweglichen Gesichts. »Ihren geistlichen Gerichtshof können wir Ihnen nicht wiedergeben; aber Sie sollen mehr Dampfer haben, eine Bahn, ein Unterseekabel, eine Zukunft in der großen Welt, die unendlich wertvoller ist als jede beliebige geistliche Vergangenheit. Sie sollen mit etwas Größerem als zwei Vizekönigen in Berührung gebracht werden. Aber ich hatte wirklich keine Vorstellung, daß eine Küstenstadt von der Welt so abgeschlossen bleiben könnte. Wenn sie noch tausend Meilen landeinwärts läge! – Ganz erstaunlich! Ist hier wohl seit hundert Jahren, von heute an gerechnet, je etwas geschehen?«
Während er so, langsam und belustigt, redete, behielt sie das kleine Lächeln bei. Reichlich spöttisch, wie es ihm vorkam, versicherte sie ihm, daß sich gewiß nichts – niemals etwas in Sulaco ereignet habe. Sogar die Revolutionen, deren es während ihrer Zeit zwei gegeben, hatten den Frieden des Orts geachtet. Ihre Schauplätze waren die volkreicheren südlichen Teile der Republik gewesen und das weite Tal von Sta. Marta, das ein einziges großes Schlachtfeld für die Parteien bildete, mit dem Besitz der Hauptstadt als Preis und dem Zugang zu einem ändern Ozean. Die dort drüben waren fortschrittlicher. Hier in Sulaco aber hörte man nur das Echo dieser großen Fragen, und natürlich vollzog sich jedesmal ein Wechsel in der Beamtenschaft, wobei die Ablösung immer über den Bergwall kam, den er selbst mit soviel Gefahr für Leben und gerade Glieder in einer alten Postkutsche überklettert hatte.
Der Vorsitzende des Verwaltungsrats hatte ihre Gastfreundschaft mehrere Tage genossen und war wirklich dankbar dafür. Erst nadi dem Verlassen von Sta. Marta hatte er inmitten der fremdartigen Umgebung völlig die Fühlung mit europäischem Leben verloren. In der Hauptstadt war er der Gast der Gesandtschaft gewesen und hatte reichliche Beschäftigung in den Unterhandlungen mit den Mitgliedern von Don Vincentes Regierung gefunden – gebildeten Leuten, denen die Grundbedingungen gesitteter Geschäftsführung nicht unbekannt waren.
Was ihn zur Zeit am meisten beschäftigte, war der Landerwerb für die Eisenbahn. Im Tal von Sta. Marta, wo schon eine Linie in Betrieb stand, war es nur eine Preisfrage, da die Leute umgänglich waren. Eine Kommission war eingesetzt worden, um die Grundwerte festzustellen, und die Schwierigkeit beschränkte sidi darauf, den richtigen Einfluß auf die Kommissionsmitglieder zu gewinnen. In Sulaco aber – der Westlichen Provinz, für deren Erschließung die neue Eisenbahn gedacht war –, in Sulaco hatte es Ärger gegeben. Der Landstrich war seit Menschengedenken abgeschieden hinter seinen natürlichen Schutzwällen gelegen und hatte neuzeitlichen Unternehmungen die Steilwände seiner Berge entgegengesetzt, den seichten Hafen am Ende eines ewig bewölkten, ewig windstillen Golfs, die rückständige Gesinnung der Eigentümer des fruchtbaren Bodens – aller dieser altadeligen spanischen Familien, aller dieser Don Ambrosio Dies und Don Fernando Das, die dem Plan einer Bahnlinie über ihre Grundstücke ablehnend und mißtrauisch gegenüberstanden. Es war vorgekommen, daß einige der Vermessungsabteilungen, die über die ganze Provinz zerstreut arbeiteten, unter Androhung von Gewalt vertrieben worden waren, und in anderen Fällen wiederum waren maßlose Preisforderungen erhoben worden. Aber der Eisenbahnmensch war stolz darauf, jedem Vorkommnis gewachsen zu sein. Da ihm hier in Sulaco das feindliche Gefühl blinder Rückständigkeit entgegengetreten war, so wollte er ihm durch ein anderes Gefühl begegnen, bevor er sich einfach nur auf sein Recht stützte. Die Regierung war verpflichtet, die Bedingungen des Vertrags mit der Eisenbahngesellschaft durchzuführen, und sollte sie auch offene Gewalt dazu gebrauchen müssen. Der Verwaltungsrat wünschte aber für den glatten Ablauf seiner Pläne alles eher als einen bewaffneten Eingriff. Die waren viel zu groß und weitreichend und auch zu vielversprechend, als daß man hätte ein Mittel unversucht lassen mögen; und so war er auf den Gedanken gekommen, den Präsidenten-Diktator hier herüberzubringen, zu einer Reihe von Feierlichkeiten und Reden, die in einer großen Zeremonie am Hafenkai anläßlich des ersten Spatenstiches gipfeln sollten. Schließlich war er das eigene Geschöpf dieser Leute – dieser Don Vincente. Er war der verkörperte Triumph der besten Elemente im Staat. Dies waren Tatsachen, und wenn Tatsachen überhaupt eine Bedeutung hatten, sagte sich Sir John, so mußte der Einfluß dieses Mannes wirksam sein und sein persönliches Erscheinen die gewünschte Versöhnung herbeiführen. Sir John hatte die Reise mit Hilfe eines sehr geschickten Advokaten zuwege gebracht, der in Sta. Marta als der Agent der Gould-Silbermine bekannt war, der größten