Nostromo. Joseph Conrad

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Nostromo - Joseph Conrad

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seiner schrankenlosen Großmut, seiner verschwenderischen Freigebigkeit, seiner männlichen Eitelkeit; im dunklen Gefühl seiner Größe, wie in seiner treuen Hingabe und dem Etwas in seinen Trieben, das Verzweiflung weckt und aus Verzweiflung stammt, – in all dem ist er ein Mann des Volks, ein Sinnbild neidloser Kraft, die es ablehnt, zu führen, doch von innen heraus herrscht. Auch in späteren Jahren, als der berühmte Kapitän Fidanza, dem Wohl des Landes verbunden und auf allen seinen vielen Wegen in den neuzeitlich umgestalteten Straßen von Sulaco von ehrfürchtigen Blicken verfolgt; wenn er die Witwe des Hafenarbeiters besucht, der Loge beiwohnt, in unbewegtem Schweigen bei einer Volksversammlung anarchistischen Reden zuhört; als das geheime Haupt der neurevolutionären Bewegung, als der wohlhabende Genosse Fidanza, dem alle vertrauen und der das Geheimnis seines sittlichen Niederbruchs in seiner Brust verschlossen trägt: – immer bleibt er im Wesen ein Mann des Volks. In seinem Gemisch aus Lebenslust und Verachtung des Lebens, in der brennende« Überzeugung, verraten worden zu sein, verraten zu sterben, ohne zu wissen von wem oder von was: in all dem ist er immer wieder ein Mann des Volks, der über jeden Zweifel große Mann – mit seiner eigenen Privatgeschichte.

      Noch eine Gestalt aus diesen bewegten Zeiten möchte ich erwähnen, und das ist Antonia Avellanos, »die wunderschöne Antonia«. Ob sie eine denkbare Vertreterin des südamerikanischen Mädchens ist, möchte ich nicht zu entscheiden wagen. Für mich aber ist sie es. Wenn sie auch neben ihrem Vater (meinem verehrten Freund) immer ein wenig im Hintergrund bleibt, so ist sie doch, hoffe ich, genügend herausgearbeitet, um das, was ich sagen will, verständlich zu machen. Von all den Leuten, die mit mir die Geburt der Westlichen Republik mitangesehen haben, ist sie die einzige, die sich in meinem Gedächtnis ein Weiterleben gesichert hat. Antonia, die Aristokratin, und Nostromo, der Mann aus dem Volke, sind die Werkleute der neuen Zeit, die wahren Schöpfer des neuen Staates; er durch seine sagenhafte, kühne Tat, sie als Frau, einfach durch die Macht ihres Daseins: das einzige Wesen, das fähig war, eine wahre Leidenschaft im Herzen eines Schwätzers zu wecken.

      Wenn etwas mich verleiten könnte, Sulaco nochmals zu besuchen (es wäre mir verhaßt, all die Veränderungen sehen zu müssen), dann wäre es Antonia. Und der wahre Grund dafür – warum es nicht offen zugeben? –, der wahre Grund ist, daß ich sie nach dem Bild meiner ersten Liebe geformt habe. Wie blickten doch wir alle, aufgeschossene Schuljungen, die Kameraden ihrer Brüder, wir alle, zu dem Mädchen auf, das selbst die Schule kaum verlassen hatte. Sie erschien uns als die Verkörperung eines Glaubens, zu dem wir alle geboren waren, den aber sie allein mit unbeugsamer Hoffnung hochzuhalten wußte. Sie hatte vielleicht mehr Glut und weniger Seelenruhe in sich als Antonia, doch war sie eine unerbittliche Puritanerin der Vaterlandsliebe, ohne den leisesten Makel von Weltlichkeit in ihren Gedanken. Ich war damals nicht der einzige, der sie liebte, doch war ich es, der am öftesten (ganz wie der arme Decoud) ihre scharfe Kritik an meiner Leichtfertigkeit anzuhören oder dem Ansturm ihrer erhabenen, unwiderlegbaren Angriffe standzuhalten hatte. Sie verstand mich nicht ganz – doch was tat das! An einem Nachmittag, als ich zu ihr kam, ein furchtsamer und doch trotziger Sünder, um ihr ein letztes Lebewohl zu sagen, da empfing ich einen Händedruck, der mein Herz aufpochen ließ, und sah eine Träne, die mir den Atem nahm. Schließlich wurde sie milder, als hätte sie plötzlich begriffen (wir waren noch solche Kinder!), daß ich wirklich und wahrhaftig wegging, weit weg – nach Sulaco sogar, das unbekannt, unseren Augen verborgen, im Dunkel des stillen Golfs lag.

      Darum sehne ich mich mitunter, nochmals die »wunderschöne Antonia« (oder sollte es die andere sein?) zu sehen, wie sie sich im Düster der großen Kathedrale bewegt, ein kurzes Gebet am Grab des ersten und letzten Kardinalerzbischofs von Sulaco spricht, in töchterliche Hingabe verloren vor dem Denkmal des Don José Avellanos verweilt und mit einem langen, innigen, treuen Blick auf die Gedenktafel für Martin Decoud abgeklärt in den Sonnenschein der Plaza hinaustritt, mit ihrer aufrechten Haltung und dem weißen Haupt; ein Überbleibsel aus der Vergangenheit, unbeachtet von den Menschen, die ungeduldig das Morgenrot einer anderen Neuen Ära erwarten, das Kommen immer neuer Revolutionen.

      Doch dies ist der törichtste aller Träume; denn ich habe vollkommen begriffen, daß von dem Augenblick an, wo der Atem dem Körper des Großen Capataz, des Mannes aus dem Volke, entflohen war, endlich erlöst von der Last der Liebe und des Reichtums – daß von diesem Augenblick an für mich in Sulaco nichts mehr zu tun blieb.

      J.C.

Teil I

      1

      Zur Zeit der spanischen Herrschaft, und noch viele Jahre nachher, hatte die Stadt Sulaco – von ihrem Alter zeugt die üppige Pracht der Orangengärten – in geschäftlicher Hinsicht höchstens als ein Küstenhafen mit beträchtlichem Lokalverkehr in Ochsenhäuten und Indigo einige Bedeutung gehabt. Für die klobigen Hochseegalionen der Eroberer hatte sich der Hafen von Sulaco wegen der in dem weiten Golf vorherrschenden Windstillen verboten; denn die brauchten eine scharfe Brise, um überhaupt vom Fleck zu kommen, wo einer der modernen Schnellsegler beim bloßen Flattern der Leinwand noch Fahrt macht. Einige Häfen in der Welt sind schwer zu erreichen infolge heimtückischer Unterwasserklippen und der Stürme an ihren Küsten. Sulaco lag wie in einem unverletzlichen Heiligtum geborgen vor den Versuchen der Handelswelt, in der feierlichen Stille des tiefen Golfo Placido, wie in einem ungeheuren, halbkreisförmigen Tempel ohne Dach, zur See zu offen, die Wände aus hohen Bergen mit den Trauertüchern der Wolken verhängt.

      Auf der einen Seite dieser breiten Einbuchtung in der geraden Küstenlinie der Republik Costaguana läuft das Land in eine unbedeutende Spitze aus, die Punta Mala heißt. Von der Mitte des Golfs aus ist diese Landspitze überhaupt nicht sichtbar; nur der Kamm eines steilen Hügels, der sich darauf erhebt, ist undeutlich auszunehmen, wie ein Schatten am Himmel.

      Auf der andern Seite zeichnet sich gegen die dunstige Glut des Horizonts etwas wie ein schwebender bläulicher Nebelfleck ab. Das ist die Halbinsel Azuera, ein wildes Gewirr scharfer Felsen und steiniger Gleichstrecken, von senkrechten Schluchten zerrissen. Sie ragt weit in die See hinaus, als streckte die grüne Küste an dünnem Hals aus Sand, von Dorngebüsch umwuchert, ein rauhes Haupt aus Stein vor. Gänzlich wasserlos – denn die Regen laufen sofort nach allen Seiten ins Meer ab –, hat die Halbinsel, so heißt es, nicht Humus genug, um auch nur einen Grashalm sprießen zu lassen, als lastete ein Fluch auf ihr. Die Armen, die aus einem dunklen Bedürfnis nach Trost die Begriffe von Böse und Reich verquicken, erzählen, die Insel wäre so tot wegen ihrer verwunschenen Schätze. Das gemeine Volk aus der Nachbarschaft, Peons von den Estanzias, Vaqueros von den Ebenen längs der Küste, unterworfene Indianer, die meilenweit zu Markt kommen, mit einem Bündel Zuckerrohr oder einem Korb Mais im Werte von ein paar Pfennigen – sie alle glauben fest, daß Haufen glänzenden Goldes im Düster der tiefen Schluchten liegen, die die steinige Hochfläche von Azuera durchschneiden. Die Überlieferung will wissen, daß viele Abenteurer früherer Zeiten bei der Suche umgekommen sind. Es geht auch die Rede, daß noch zu Gedenkzeiten der Lebenden zwei wandernde Seeleute – Americanos vielleicht, jedenfalls aber Gringos irgendwelcher Art – einen verspielten, nichtsnutzigen Mozo überredet und zu dritt einen Esel gestohlen hatten, der ihnen ein wenig Dürrholz, einen Wasserschlauch und Proviant für ein paar Tage tragen sollte. So begleitet, mit Revolvern im Gürtel, hatten sie sich aufgemacht, um sich mit Buschmessern einen Weg durch das Dorndickicht am Halse der Halbinsel zu bahnen.

      Am zweiten Abend war seit Menschengedenken zum erstenmal eine gerade Rauchsäule zu sehen (sie konnte nur von dem Lagerfeuer der drei herrühren), die sich von einem messerscharfen Grat auf dem felsigen Haupt schwach gegen den Abendhimmel abhob. Die Mannschaft eines Küstenschoners, der in toter Flaute drei Meilen von der Küste weg stillag, starrte verblüfft bis zum Dunkelwerden darauf hin. Ein schwarzer Fischer, der einsam in einer kleinen Bucht nahebei lebte, hatte den Aufbruch mitangesehen und auf ein Zeichen gelauert. Er rief seine Frau hinzu, als die Sonne eben im Untergehen war. Sie hatten das seltsame Wahrzeichen mit Neid, Ungläubigkeit und Schaudern beobachtet.

      Die gottlosen Abenteurer gaben kein andres Zeichen mehr. Die Matrosen, der

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