Nostromo. Joseph Conrad
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Dies also sind die sagenhaften Bewohner von Azuera, die die verwunschenen Schätze hüten; und der Schatten am Himmel auf der einen Seite, der schwimmende bläuliche Nebelfleck auf der andern kennzeichnen die äußersten Punkte der tiefen Einbuchtung, die den Namen Golfo Placido trägt, weil nie seit Menschengedenken ein starker Wind ihre Wasser aufgerührt hat.
Beim Passieren der gedachten Linie zwischen Punta Mala und Azuera verlieren die Schiffe, die von Europa nach Sulaco gehen, mit einmal die scharfen Brisen des Ozeans und werden zur Beute launischer Luftströmungen, die oft volle dreißig Stunden lang mit ihnen ihr Spiel treiben. Vor den Schiffen liegt das Innere des stillen Golfs an den meisten Tagen des Jahres unter einer reglosen Schicht opalfarbener Wolken. An den seltenen klaren Morgen liegt ein anderer Sdiatten über der Wasserfläche. Die Morgendämmerung bricht hoch hinter dem aufgetürmten, ragenden Wall der Kordillere an. Dunkle Gipfel schneiden scharf in den Himmel; ihre Steilhänge wachsen aus einem luftigen Unterbau von Urwald, der unmittelbar von der Küste aus ansteigt. Weit über den andern ragt das weiße Haupt des Higuerota majestätisch ins Blau. Ungeheure Gruppen nackter Felsen sprenkeln die ebenmäßige Schneefläche mit schwarzen Tupfen.
Dann, während die Mittagssonne den Schatten der Berge aus dem Golf zurückzieht, beginnen die Wolken aus den niedrigen Tälern hervorzuquellen. Sie verwischen in dunklem Wallen die kantigen Ränder der Schluchten über den bewaldeten Hängen, verhüllen die Gipfel, treiben in windgejagten Fetzen quer über die Schneefelder des Higuerota. Die Kordillere ist dem Blick des Betrachters entrückt, als hätte sie sich in mächtige Schwaden grauen und schwarzen Dunstes aufgelöst, die nun langsam der See zutreiben und in der Tagesglut in nichts zergehen. Die Kante der Nebelwand giert immer nach der Mitte des Golfs, erreicht sie aber nur selten. Die Sonne ißt sie auf, wie die Seeleute sagen. Außer etwa, es löst sich eine dunkle Gewitterwolke von der Hauptmasse, jagt quer über den Golf und erreicht die offene See jenseits Azuera, wo sie dann plötzlich krachend Feuer speit wie ein ungeheures luftiges Piratenschiff, das, hoch über dem Horizont beigedreht, die See angriffe.
Bei Nacht schiebt sich die Wolkenmasse weiter am Himmel vor und hüllt den ruhigen Golf darunter in undurchdringliche Finsternis, in der man bald da, bald dort plötzlich Regenschauer prasseln hört. Tatsächlich sind diese umwölkten Nächte sprichwörtlich unter den Seeleuten längs der ganzen Westküste eines großen Erdteils. Himmel, Land und See schwinden zugleich aus der Welt, wenn der Placido, wie die Leute es ausdrücken, sich unter seinem schwarzen Poncho zur Ruhe legt. Die wenigen Sterne, die gegen die See zu, unterhalb der Kante der Wolkenbank, übrigbleiben, leuchten schwach wie vor dem Schlund einer schwarzen Höhle. Unter der lastenden Decke treibt dein Schiff unsichtbar unter deinen Füßen, die Segel flattern unsichtbar über deinem Kopf, sogar das Auge Gottes, fügen sie lästerlich hinzu, könnte nicht entdecken, welche Arbeit eines Mannes Hand da unten tut; und es stünde dir straflos frei, den Teufel zur Hilfe zu rufen, würde nicht auch seine List an dieser blinden Finsternis zuschanden.
Die Ufer rings um den Golf sind durchaus steil; drei unbewohnte Inselchen wärmen sich im Sonnenschein, gerade außerhalb des Wolkenvorhangs, gegenüber der Einfahrt zum Hafen von Sulaco; es sind die »Isabellen«.
Da ist die Große Isabelle; die Kleine Isabelle, ganz rund, und Hermosa, die kleinste.
Diese letztere ist kaum einen Fuß hoch und etwa sieben Schritt breit, nur eine graue Felsfläche, die nach einem Regen wie ein Aschenhaufen raucht und die niemand vor Sonnenuntergang bloßfüßig betreten würde. Aus der Kleinen Isabelle läßt eine alte, zerzauste Palme mit starkem, stacheligem Stamm, eine wahre Hexe unter Palmen, trübselig ihre dürren Blätter über den spärlichen Sand rascheln. Auf der Großen Isabelle entspringt eine Süßwasserquelle in dem bewachsenen Hang einer Schlucht. Das Eiland ähnelt einem smaragdgrünen, etwa meilenlangen Keil und trägt zwei Waldbäume, die eng zusammenstehen und eine weite Schattenfläche zu Füßen ihrer schlanken Stämme breiten. Eine Schlucht, die sich durch die ganze Länge der Insel zieht, ist dicht mit Büschen bestanden; der Kamm fällt auf der einen Seite als steile Klippe zum Meere ab und verläuft auf der ändern allmählich in einen schmalen Streifen sandigen Ufers.
Von diesem niederen Ende der Großen Isabelle dringt das Auge durch eine Lücke, etwa zwei Meilen weit weg, die wie mit der Axt aus dem regelmäßigen Schwung der Küste ausgehauen ist und gerade in den Hafen von Sulaco führt. Auf der einen Seite kommen die kurzen, waldigen Ausläufer und Täler der Kordillere bis hart an das Ufer herunter, auf der andern Seite verliert sich die große Sulaco-Ebene in das opalfarbene Geheimnis endloser Weite, von trockenem Dunst verhängt. Die Stadt Sulaco selbst – Mauerkämme, große Kuppeln, der Schimmer weißer Balkone inmitten weiter Orangenhaine –, die Stadt liegt zwischen den Bergen und der Ebene, etwas entfernt von ihrem Hafen und nicht in der Sehlinie vom Meere aus.
2
Als einziges Anzeichen geschäftlicher Betriebsamkeit innerhalb des Hafens ist von der Großen Isabelle aus der wuchtige Kopf der hölzernen Landungsbrücke zu erkennen, den die Oceanic Steam Navigation Company (die O. S. N., wie sie genannt wird) über den seichten Teil der Bucht hat schlagen lassen, bald nachdem sie sich entschlossen hatte, aus Sulaco einen ihrer Anlegehäfen in der Republik Costaguana zu machen. Der Staat weist an seiner langen Küste mehrere Häfen auf, die aber alle – Cayta, einen bedeutenden Platz, ausgenommen – entweder nur kleine, unzugängliche Einlasse in einem Eisenwall darstellen – wie Esmeralda zum Beispiel, sechzig Meilen südlich – oder nur offene Reeden, den Winden ausgesetzt und von der Brandung gepeitscht.
Vielleicht hatten die atmosphärischen Bedingungen, die die Kauffahrer vergangener Zeiten fernhielten, die O. S. N. Kompagnie bewogen, in den heiligen Frieden einzubrechen, in dem Sulaco sein geborgenes Dasein führte. Die umspringenden Brisen, die auf dem weiten Halbkreis der Gewässer innerhalb der Spitze von Azuera ihr Spiel trieben, konnten der Dampfkraft der ausgezeichneten Flotte der Gesellschaft nichts anhaben. Jahr um Jahr waren die schwarzen Leiber ihrer Schiffe die Küste hinauf und hinunter gezogen, hinein und heraus, über Azuera hinaus, über die Isabellen, über die Punta Mala, ohne Rücksicht auf irgend etwas, außer auf die Tyrannei der Zeit. Ihre Namen, alle aus der Mythologie entlehnt, wurden vertraute Worte längs einer Küste, die nie von den Göttern des Olymps beherrscht worden war. Die Juno war lediglich wegen ihrer bequemen Mitschiffksajüten bekannt, der Saturn wegen der guten Laune seines Kapitäns und der prächtigen Vergoldung und Malerei des Salons, während der Ganymed hauptsächlich für Viehtransport eingerichtet war und von Küstenpassagieren besser gemieden wurde. Noch dem letzten Indianer im verlassensten Küstendorf war der Zerberus vertraut, ein kleiner schwarzer Ratterkasten ohne nennenswerte Einrichtung für Passagiere, dessen Aufgabe darin bestand, längs der waldigen Küste unter den schauerlichen Felsen hinzukriechen und verbindlich vor jeder kleinsten Gruppe von Hütten anzuhalten, um Landesprodukte einzunehmen, bis hinunter zu Dreipfundpaketen von Rohgummi, in dürre Blätter verpackt.
Und da sie selten auch nur das kleinste Paket in Verlust gehen ließ, äußerst selten etwa einen Ochsen einbüßte und nie einen einzigen Passagier ertränkt hatte, so stand der Name der O. S. N. in mächtigem Ansehen. Die Leute erkannten an, daß unter der Obhut der Gesellschaft ihr Leben und ihr Eigentum auf dem Wasser sicherer wären als in ihren eigenen Häusern an Land.
Der Inspektor der O. S. N. in Sulaco für den gesamten Dienstzweig Costaguana war überaus stolz auf die Stellung seiner Gesellschaft. Er faßte das in einen Ausspruch zusammen, den er oft im Munde führte: »Wir machen niemals Fehler.« Den Offizieren der Gesellschaft gegenüber wurde es zur eindringlichen Mahnung: »Wir dürfen