3000 Plattenkritiken. Matthias Wagner
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу 3000 Plattenkritiken - Matthias Wagner страница 23
Van Morrison
„A Night in San Francisco” (1994)
Wahrscheinlich gäbe es keinen Künstler auf der Welt, der nicht käme, wenn Van the Man ihn auf die Bühne bäte. Seiner Bitte folgten die Großväter (Hooker, Wells, Witherspoon) wie die Enkelinnen (Kate St. John, Candy Dulfer). Morrison und seine Band sind live atemberaubend, und ihr kochender Mix aus Soul, Blues und Jazz gewinnt durch die Gäste noch – man höre nur das (von Dulfer gespielte?) Saxofoon für James Browns „It’s a Man’s Man’s World“. In langen Medleys schreitet der aus wolkiger Mystik wieder herabgestiegene Meister durch die Geschichte der schwarzen Musik; die Zeiten verschwimmen vor unseren Ohren, und Genres, Themen, Zeilen und Rhythmen verdichten sich zu einem Monument des ewigen Blues. Morrison ist einmalig.
Verschiedene Künstler
„Die schönste Platte der Welt” (1994)
Wer unter denen, die seit 30 Jahren grübeln, welche die schönste Scheibe der Welt sei, hätte gedacht, dass sie klänge wie parodierter deutscher Schlager, wie Underground-NDW, wie ein keckes Streichquartett, wie Lindenberg und Cave zugleich – kurz: wie zehn Bands, die dieses astronomische Spektrum mit je einem eigenen und einem Coversong abdeckten? Na, keiner hätte das gedacht. Die Popwelt begann schon immer beim sympathischen Dilettantismus, diese Platte auch. Sie belässt’s dabei nicht, weil sie nämlich mehr Ideen versammelt als Mitwirkende (darunter die Merricks, Schade Schokolade, Die Busfahrer und andere Berühmtheiten). Hier geht alles – ganz im Geiste Ata-Taks, wo die CD dennoch explizit NICHT herkommt. Und fast alles macht Spaß: ein prima Klima. Nur die Nummerierung ist schludrig.
Verschiedene Künstler
„Funk” (1994)
Drums hämmern auf diesem Sampler den schwarzen Funk in unschuldige Seelen, erzählen erotisierend von Sex und Liebessymbolen, schleichen sich unter die Haut. Neun bekannte Namen der Soulszene tun sich zusammen, um dem New Funk alle Ehre zu machen – auch wenn das Ergebnis sich manchmal eher gewollt als gekonnt anhört. Mächtig die Stimmen der Steeles und Mavis Staples, leidend die des Funkmeisters George Clinton, möchtegernerotisch dagegen Mayte. Die New Power Generation, diesmal ohne Genie Prince, gibt sich hier lässig cool; der Meister selbst duettiert mit Nona Gaye. Erweitert wird das Spektrum mit einer Funkjazzfusion, geführt von einem verspielten, spottenden Saxofon.
Verschiedene Künstler
„Run your Toes through the Shagpile” (1994)
Ein Labelsampler der Sonderklasse. Er gibt Einblick in den blühenden australischen Rockuntergrund, wo es offenbar beste Bedingungen für neue Talente gibt. Für Lizard Train zum Beispiel: in ihrem rohen, improvisierten Psychoblues kämpft ein Sänger den heroischen Kampf gegen Gitarrenmonster, Feedbacks und Schleppschlagzeug. Crent dagegen fungieren als Nachtschattenversion von ZZ Top, und No Comply sind eine Punkband, die groß werden MUSS, sonst verlieren wir den Glauben an die Rockgerechtigkeit: so unnachgiebig hat selten eine Einbahnstraßenrhythmusgruppe die schönsten Melodien durch Marshall-Verstärker geprügelt.
Verschiedene Künstler
„Your Invitation to Suicide – A Tribute to Alan Vega” (1994)
„Eines Tages“, erzählt Alan Vega, „enschied sich Marty dafür, während des ganzen Gigs nur eine Note zu spielen. Aber welch eine Note! Ich lief herum wie verrückt, sprang ins Publikum. Jemand versuchte mir eine Flasche über den Schädel zu ziehen. Es gab mehr Leute auf der Bühne als davor. Ich verjagte sie, und Marty hielt immer noch diese Note für eine ganze elende Stunde. Als der Gig vorbei war, kam der Clubbesitzer mit Tränen in den Augen an, umarmte mich und sagte: ,Alan, glaubst du, dass du DAMIT deinen Lebensunterhalt bestreiten kannst?’ Ich tat ihm wirklich mächtig leid“. – Ja, ja, wenn Onkel Alan vom Krieg erzählt … Und jetzt kriegt er dafür sogar eine Hommage – von Thin White Rope und anderen verqueren Geistern. Es lebe der Wahnsinn!
ZZ Top
„Antenna” (1994)
Hätte Musik eine Erdenschwere, die von ZZ Top wöge eine Tonne. Könnte man Musik in Farben beschreiben, die von ZZ Top hätte ein tiefes Rot, das schon früh am Abend aussähe wie pures Schwarz. Ein träger Herzschlag durchpulst diesen Bluesrock – wie der eines Wüstentiers, das sich vorsichtig bewegt, um nicht vor Hitze zu explodieren. Mit „Antenna“ finden die Mormonen wieder zurück zu sich selbst: zur reinen Form eines schwer rockenden, angestrengt-kehligen Texas-Blues, der T-Shirt-Mädels preist oder legendäre Radiozeiten oder das Leben der Eidechsen. Vorbei der gefloppte Flirt mit dem Pop, es zählen nur noch Dusty Hills dunkle Bassattacken, Billy Gibbons’ quiekende Soli und Frank Beards schnurgerade Beats, die nur noch selten von kecken Sequenzern aufgemöbelt werden. Auf „Antenna“, dem ersten ZZTop-Album seit fünf Jahren, ist kein Ton neu, doch jeder gut für eine gute Gänsehaut. Killerriffs, Mann.
1995
„Bei ihm jault die Elektrische, als hätten seit Hendrix’ Tod nicht Legionen von Saitenwichsern ihre eklen Feedbackeiterbeulen öffentlich ausgedrückt.“
aus der Rezension zu „Mother Tongue“ von Mother Tongue
Aerosmith
„Get a Grip” (1995)
23 Jahre lang lieferte Pink Floyds Kuhcover für „Atom Heart Mother“ das rindviehtechnische Optimum. Jetzt kommen Aerosmith: Ihre Coverkuh trägt nicht nur ihr B(r)andzeichen, sondern auch einen Ohrring im Euter. Das ist witzig, und ihr Hardrock ist fulminant: Der breitmäuligste Shouter aller Zeiten, Steven Tyler, singt sich die schwarze Seele aus dem Leib und setzt schrille Harmonika-Fanfaren obendrauf; die Gitarristen Perry, Whitford und Hamilton schrammeln schnörkel- und makellos, Drummer Joey Kramer hat den R’n’B mit Löffeln gefressen. Zusammen mit einer prächtigen Bläsersektion setzen Aerosmith knallharte, eherne Maßstäbe – auch dank brillanter Songs wie „Livin’ on the Edge”. Wie sagt Jon Bongiovi: „Ich wünschte, ich wäre halb so lange halb so gut wie Aerosmith.“ Eine verspielte Krachscheibe, in der manche Melodien unterzugehen drohen, die aber zugleich vergessen lässt, dass die Exkokser nun auch schon 23 Jahre im Geschäft sind. So lange eben, wie Pink Floyds Kuhcover das rindviehtechnische Optimum lieferte.
Bill Laswell
„Axiom Ambient: Lost In The Translation” (1995)
Mehr als andere Musik macht diese CD des New Yorker Avantgardisten Bill Laswell den Sehsinn entbehrlich. Sie verdunkelt die Welt und benutzt Klänge als Fackeln, Kerzen und Halogenstrahler. Der Mann, der schon Anfang der 80er genreübergreifend dachte, verbindet US-Jazz mit afrikanischen Rhythmen, lässt Oboen durch weite Klangräume hallen, um ihnen rätselhafte Technogrooves an die Seite zu stellen. Manche Übergänge sind abrupt; es sind geisterhaft aufsteigende Zitate aus Alben seines Axiom-Labels, die wieder wegdämmern und in Weltmusik oder statischen Soundskulpturen aufgehen. Ein Album gegen MTV und Viva. Ein Album nur für die Ohren – Visionen