3000 Plattenkritiken. Matthias Wagner
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Gary Heffern
„Painful Days” (1995)
Das Glitterhouse-Label ist für Songwriter-, Country- und Folkfans ein El Dorado. Beweis: der brillante 80-Minuten-Sampler „Silos & Utility Sheds“. Darauf vertreten ist auch Gary Heffern aus Seattle. Auf seiner dritten CD nutzt er es aus, dass Glitterhouse den Familiengedanken schürt. Alle sind stets bei allen zu Gast, und so entsteht allmählich ein eigener Stil. Bei Heffern spielen Carla Torgerson Cello oder Peter Buck Bouzouki, Larry Barrett schreibt ihm ein Lied. Und zwar ein genauso trauriges, wie Heffern es gemeinhin selber schreibt. Sein Country kommt ohne Glitzer und Stetson aus. In seinem Saloon wabert dunkler Rauch, der die Menschen trennt und zurückwirft auf sich selber. Gefühlsmusik für die Selbsthilfegruppe der Nashville-Geschädigten.
Gil Scott-Heron & Brian Jackson
„Diverse Alben” (1995)
Den urbanen Jazzfunk der 70er bereicherte Gil Scott-Heron mit rabiater Agitation. South Carolina und Südafrika? Für ihn nur graduelle Unterschiede. Zu pulsendem Soul, Funk und Jazz mit expressiven Bläsersoli rezitierte, giftete und sang er, oft unterstützt vom Keyboarder Brian Jackson, gegen Rassismus und Korruption an – ein früher Avantgardist des HipHop und Agitrap, der nie Lösungen oder Hoffnungen bot, sondern vor allem Wut und in den leiseren Momenten allenfalls Resignation. Jetzt gibt es sechs der auf Arista erschienenen Alben auf CD, als japanische Pressungen vom Masterband. Gespart hat man also nicht am Sound, aber an den Booklets (die Texte blieben japanisch …). „Bridges“ (1977) ist die funkigste, „Moving Target“ (1982) die souligste und „1980“ die discotauglichste Scheibe. Alle sechs zusammen sind eine Fundgrube für Rapfans mit Geschichtsbewusstsein – und thematisch noch keine Spur veraltet.
Goldie feat. The Metalheads
„Timeless” (1995)
Der Mann aus Wolverhampton ist ein gefragter Remixer (Massive Attack, Ice Cube) und ein Jungle-König. Doch „Timeless“ ist mehr als eine Zappelvorlage, viel mehr. Es ist ein großes Werk und, wie alle großen Werke, mit den Kategorien „gut“ oder „schlecht“ nicht zu fassen. Zu sehr lebt es von Kontrasten und Widersprüchen: der erhabenen Soulstimme von Diane Charlemagne, den kuriosen Synthieschlieren zwischen Moby-Seichtheit und Experimentierlust und, vor allem, der furiosen elektronischen Perkussion, die sich loslöst vom Takt, um frei und grotesk Melodien und Stimmen zu umwirbeln, am atemberaubendsten im 20-minütigen Titelstück. Goldie wiederholt sich in der Folge, verwendet ähnliche Klangchiffren und Wirbeldrums noch einmal und immer wieder; dennoch markiert „Timeless“ ein neues Niveau – Breakbeat ist tot, es lebe der Freebeat!
Grateful Dead
„Hundred Year Hall” (1995)
Jerry Garcia ist tot und mit ihm Grateful Dead, das größte Kultobjekt der Rockhistorie. An Dead-Livemusik indes wird weiter kein Mangel sein. Nicht nur die Fans schnitten mit, die Band selber archivierte alle Auftritte – auch jenen vom 26.4.1972 in der Frankfurter Jahrhunderthalle. CD 1 birgt elf Songklassiker in bestechend lockeren Versionen, auf CD zwei erstrecken sich vier psychedelische Reisen über fast 70 Minuten, ohne dass die Songstrukturen ganz verloren gingen. Wenn Solist Garcia mal selbstvergessen davondriftet, holt ihn die Rhythmussektion bald wieder auf den Boden der Bühnenrealität zurück, selbst im 37-Minüter „Cryptical Envelopment“. Ein Livejuwel aus dem Reich der Toten: auch Organist Ron PigPen McKernan war damals noch dabei; er starb elf Monate später an Leberzirrhose.
High Llamas
„Gideon Gaye” (1995)
So spröde sind die Streicher, so flach die Drums, so zittrig die Beatorgel, dass man folgern muss: Die High Llamas wollen ihr mildes Desinteresse am eigenen Material erst gar nicht verbergen. Die auf Akustikgitarren fußenden Stücke der Britpopper sind so schläfrig-schludrig wie die des American Music Club. Echte Geniestreiche wie „Checking in, checking out“ – eine künftige Popikone von Kinks’scher Klasse – stehen neben verträumten Trödeleien („The Goat looks on“), und starke Songeinfälle werden nach drei Pflichtminuten schon mal zu vergähnten Endlosoutros, die dann zehn Minuten lang versanden („Track goes by“). They might be giants, möchte man ausrufen, doch sie ziehen es vor, tall dwarfs zu bleiben. Auch gut, Jungs.
Hootie & The Blowfish
„Cracked Rear View” (1995)
Rock ist Mathematik. Weezer sind die Wurzel aus den 60ern, potenziert mit Punk, und Hootie & The Blowfish sind Spin Doctors minus Allman Brothers plus Elton John. Die USA schmieden immer wieder Gitarrenrocktalente, die auf dem Feld der Ahnen einen Touchdown nach dem andern landen, aber die Regeln ein wenig ändern. Das macht die alte Sache aufregend. Weezer wirken auf ihrem titellosen Debüt wie verspielte Jungs, die im Sandkasten toben und mit jedem Klötzchen was anstellen. Da gibt es Krachgitarren, Akustikgeplinker, Harmonikas, Harmoniegesänge und die simpelsten, großartigsten Popmelodien seit den frühen Stranglers. Die anderen tollen Debütanten des Monats, Hootie & The Blowfish, arbeiten sich ernst und pathetisch am Folkrock ab, ehren Vater und Mutter und bleiben dabei locker. Weezer sind aus Kalifornien, Hootie & The Blowfish aus South Carolina. Rock ist Mathematik. Und guter Rock ist manchmal der Quotient aus Südstaatensonne, Stromgitarre und einem Marshall-Verstärker.
Iain Matthews
„Pure & crooked” (1995)
Iain Matthews Songs haben etwas Strahlendes und – bei aller Melancholie – Sauberes. Etwas, das auf eine Art pathetisch ist, wie es (eigentlich) nur Anfang der 70er möglich war. Kurz zuvor hatte der britische Grünschnabel den Song „Woodstock“ geschrieben, die wie in einem Zwischenreich schwebende Hommage ans verlorene Eden der Hippies: „We are stardust, we are golden/And we got to get ourselves back to the garden.“ Solche Nostalgie war bei Matthews nie sentimental, und er rettete diese reine Folksongschönheit über die Zeiten, auch hinüber in die 90er – aber wie er das macht, bleibt sein Geheimnis. Die 16 Songs auf „Pure & crooked“ ergeben ein zeitloses Album: ohne eine Spur Rock’n’Roll (trotz Lou-Reed-Pose auf dem Cover), doch voll strahlender Wehmut.
Jayhawks
„Tomorrow the green Grass” (1995)
Diese Songs haben ihre Traurigkeit von klaren Nächten, nicht von staubigen Alleen. Sie erinnern an jenen Hund, der sich immer am Rand des Friedhofs herumtrieb. Sie kriechen in deinen Wandschrank und bleiben da bis nächsten Herbst. – Diese Sätze stehen auf der CD-Rückseite. Sie sind wahr, weil sie die lyrische Melancholie des Albums genau treffen. Der Jayhawks-Countryrock verhält sich zu Nashville wie Jack London zum Marlboro-Mann. Diese Band macht alles richtig, wozu auch der betont schlampige Harmoniegesang gehört. Ihr Song „Miss Williams Guitar“ sollte zum „Runaway Train“ von 1995 werden. Dass die geehrte Victoria Williams auf einem anderen Stück dann mitspielen darf, ist ehrenwert. Die Jayhawks machen eben alles richtig.
Kevin