3000 Plattenkritiken. Matthias Wagner
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Lassie Singers
„Stadt, Land, Verbrechen” (1995)
Vom Pippi-Langstrumpf-Teenierockabilly zum Funpop mit Niveau – die Lassie Singers verlassen die Wunderwelt der Pubertät und kokettieren nun mit dem Erwachsensein. Erwachsene nämlich dürfen ihre Gitarren unter Strom setzen, sie dürfen gar verzerrte Töne spielen. Erwachsene dürfen eine Glatze haben (wie Neu-Lassie und Ex-Ideal-Schrammler F. J. Krüger), Kinder kriegen (wie Almut Schummel) und Examen machen (Glückwunsch, Christiane Hügelsheim!). Erwachsene dürfen sagen: So, Connie Froboess, du trägst jetzt Leder. All das tun die Lassies, ganz wie richtige Erwachsene. Und für einen anständig swingenden Barjazz verraten sie quick den Traum der kleinen Mädchen. Ihre Arrangements unter Wortungetümen wie „unvorteilhafteste Frisur“ haben Speckröllchen gekriegt, aber es ist kein Babyspeck mehr. Sie dürfen jetzt endlich mit den Großen spielen.
Little Axe
„The Wolf that House built” (1995)
So einen bizarren, schleppenden Mix aus Blues, Dub, Gospel, Weltmusik und Psychedelia hat noch niemand gemacht. Die Gitarren hängen wie sirrende Drähte im Wind, die Stimmen irren durchs Dickicht des Mischpults, und Tablas pochen von sagenhafter Ferne. Wir haben hier eine originäre Stilverbindung, einen Psychogospelblues. Kreiert hat ihn Skip McDonald, der den Zwölftakter seit drei Dekaden mit der Postmoderne versöhnen will, zuletzt im Projekt Tackhead. Nun ist es geschafft. Man höre die sinistre Geisterreiterversion von Alan Lomax’ „Never turn back“, um zu wissen, dass trotz aller Beschwörungen, trotz aller Gebete auf dieser Platte die Erlösung fern ist. Von Gott redet McDonald oft, doch in seinem schläfrigen Delirium hat dieses Konzept keinen wirklichen Platz mehr; die Heilandfiktion verliert sich. Am Ende ist nur noch von einem König die Rede, vom König der Klänge und des Blues. „Each sound around you carries you deeper“, heißt es schließlich, „and deeper and sounder.“ Und das ist so unübersetzbar wie wahr.
Lloyd Cole
„Love Story” (1995)
Lloyd Cole sucht den perfekten Popsong. Vielleicht hörte er auf zu schreiben, wähnte er sich am Ziel. Deshalb müssen wir ihm steten Misserfolg wünschen, denn was auf dem Weg ins Cole’sche Paradies an Liedern abfällt, ist von balsamischer Schönheit: Folksongs in winterwarmen Gewändern, gewebt aus plektrumgestreichelten Gitarren, Harmonika hie und weichem E-Bass da. Mitten drin natürlich Coles Melancholikertimbre, das uns kleine, unendlich wichtige Privatheiten zuraunt. Eine Platte, die Grant McLennans berückendes Meisterwerk „Horsebreaker Star“ noch übertrifft. Aber in den Augen des Schotten, der in den 80ern mit seinen Commotions sehr berühmt war, ist es hoffentlich nicht gut genug – denn das bewöge ihn vielleicht zum Rückzug. Nein, Lloyd: bitte scheitere weiter.
Michael Jackson
„History” (1995)
Jacksons Stimme ist dünn. Als er ein Kind war, war sie noch voll. Wenn er heute tremoliert, möchte man ihn mit Krücken stützen. Aus der Not wurde Tugend, er erhöhte den Atemanteil des Gesangs, baute perkussives Keuchen ein. Die erste Hälfte von „HIStory“ blickt zurück auf die größten Hits, und so eng beisammen wird deutlich, welch hohen Anteil Jacksons Stakkatohecheln am Erfolg hat, wie eigen sein Ächzstil ist. Er entspricht Jacksons abgehacktem Tanzstil und passt genau zu Quincy Jones’ genialen Arrangements der 80er. Die zweite CD verarbeitet das Katastrophenjahr 94. Die musikalischen Muster sind ähnlich bis zum Selbstplagiat, ohne dass die Hitmaschine brummt, und leider ist der Balladenanteil hoch. Ohne die Atemgeräusche aber ist die Stimme wieder nackt und dünn; Balladen werden zu Schmachtern. Dennoch gehört dieses Double ins Archiv – als brillant klingende Kompilation einer einmaligen und, im Doppelsinn, einsamen Karriere.
Mother Tongue
„Mother Tongue” (1995)
Eins der fulminantesten Debüts aller Zeiten: vulkanisch, erregend und selbstbewusst. Eine Band aus Kalifornien, ausgestattet mit Früh-70er-Furor, 90er-Härte und riesiger Zukunft. Der König lebt. In der Dornenhecke des Rocks von Mother Tongue hockt die Geige wie ein Rehkitz: geborgen und gefährdet. Und mitten im wogenden Gestrüpp finden sich kleine flaumige Nester – wie kurze Tonausfälle in einem Film genau dann, wenn sowieso niemand spricht und man nichts verpasst, dabei aber aufmerksamer wird für das, was noch kommt. Ein Satz wie „The king is dead/and the people are cryin’“ etwa. Man muss hören, wie schockierend lapidar Christian Leibfried diese Zeilen rezitiert und ihnen damit eine nihilistischen Kniff gibt. Und man muss hören, wie er wenig später „Burn motherfucker burn!“ herauskotzt, um zu begreifen, dass wir es hier mit einem ganz Großen zu tun haben – auch als Gitarrist. Bei ihm jault die Elektrische, als hätten seit Hendrix’ Tod nicht Legionen von Saitenwichsern ihre eklen Feedbackeiterbeulen öffentlich ausgedrückt. Bei Mother Tongue bricht der Lärm über Leibfrieds begnadete Soli herein wie ein Orkan – und immer wieder macht der Sturm kleine Pausen, um einem lyrischen Saitenflüstern Raum zu geben. Mother Tongue sind Debütanten, aber schon die dynamischte Band der Welt, die vehementeste seit Cream; Drummer Geoff Haba gurgelt mit Dynamit, und Leibfried wird der Rattenkönig des Rock.
Neil Young
„Mirrorball” (1995)
Zweimal greift Young zur Orgel. Für den Rest der Zeit lässt er die Bestie frei. Der Godfather des Grunge hat seine Kinder Pearl Jam herzitiert, und sie zeigen mit glühendem Eifer, wie man die typische Crazy-Horse-Rhythmusmaschine ölt, damit Youngs verschmierte Zerrsoli auch die richtige Unterlage haben. Bei gnadenlosen Garagensongs wie „I am the Ocean“ oder „Big green Country“ beweist vor allem der Drummer Jack Irons manisches Durchhaltevermögen. Die Band spielt am Limit, fügt sich der Dominanz des Meisters – gar Eddie Vedder singt nur im Hintergrund –, und schafft ein Rockmonument. Hoffentlich hält die wilde, wunderbare Freundschaft lang.
No Oil No Dust
„Crazy Walking” (1995)
Lu Lafayette raunt mehr, als er singt. Abnutzungserscheinung eines Altgedienten (Wolfsmond, Rattles)? Nein, Stilwille. Mit seinen Bremer Mitmusikern (zwei Gitarren, zwei Keyboards, Bass, Drums) ist er dem Schlafmützencharme von J. J. Cale oder Tony Joe White verfallen. Wenn es rockt, dann verhalten, wenn es bluest, dann wie ZZ Top während einer Siesta im Death Valley. Ihre Haltung ist entschieden laidback, doch die Lässigkeit ist keine Pose, sondern offenkundige Demonstration von Abgeklärtheit – zumal die zehn Songs unglaublich stark sind. Ein Debüt, wie man es selten zu hören kriegt und aus Deutschland noch seltener. Vielleicht wegen Lu, dem Altgedienten.
Oasis
„Morning Glory” (1995)