3000 Plattenkritiken. Matthias Wagner
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Pavement
„Wowee Zowee” (1995)
Sie klingen wie verirrt in der Wüste ohne Wasserkanister. Dinosaur-Jr.-Boss J. Mascis wird diese Platte lieben, weil er merkt, wie sein verschlafener Singsang Schule macht. Pavement kleiden diesen Vokalstil in ein sympathisches Gewusel, in dem verzerrte Stromklampfen ebenso ihren Platz haben wie Pedalsteel oder Cello. Aus Ungeordnetem dämmern dabei grandiose Songs herauf – vielleicht zu kurz, zu hingekritzelt, als dass die Band den Geheimtippstatus je verlassen könnte. Doch gilt diese Eklektik nicht jetzt als Hoffnung des Rock’n’Roll? Sicher ist, dass Neues gut auf Altem gedeiht und es manchmal nötig ist, das Alte mit Füßen zu treten. Das tun Pavement, ob sie nun schrägen Wüstenfolk oder neopsychedelischen Rock spielen: Sie verachten Grunger und Slacker. „Fight this generation“, singt Stephen Malkmus. Dafür wird ihn Mascis lieben.
Pearl Jam
„Vitalogy” (1995)
Als hätte sich Phil Glass in eine Seattler Spelunke verirrt und versuchte besoffen, den delirierenden Ziehharmonikaspieler zu einem Kinderlied zu überreden: So klingt der Song „Bugs“. Der Rest klingt anders. Aggressiv und zornig und zerrissen vor Trauer. Es ist eine Platte, über der Kurt Cobain schwebt wie der Grunge-Christus am Kreuz. „Vitalogy“ verhält sich zu den bisherigen Pearl-Jam-CDs wie „In Utero“ zu „Nevermind“: sperrig, störrisch, widerspenstig. Ohne Zweifel hat der Selbstmord Cobains Eddie Vedder & Co. auf diesen steinigen Pfad gezwungen. Cobain musste seine Weigerung, sich und seine Kunst (aus)zu verkaufen, mit dem Leben bezahlen. Pearl Jam versuchen, die Widersprüche hörbar zu machen – und mit dem Leben davonzukommen. „He who forgets will be destined to remember“, heißt es in „Nothingman“; ein Motto, eine Warnung, die die Band sich selbst mit auf den Weg gibt, so steinig er auch ist.
Pete Droge
„Necktie Second” (1995)
Ihr lieben Hiatt/Petty/Mellencamp-Fans, kommt mal her, ich muss euch was flüstern. Ihr könnt doch den Hals nie voll kriegen von urtümlichem US-Songwriterrock, seid aber angewiesen auf erwähntes Triumvirat und vielleicht zwei, drei andere Leute dieser Liga. Aber dann? Ende Gelände. Jetzt aber, Freunde, naht die Rettung, der Messias ist da. Er ist ein junger Mann von 25 Lenzen, der von Liebe und Tod singt und dabei grinst, und sein Name sei Pete Droge. Er kommt aus Seattle, wo ihn der Pearl-Jam-Gitarrist Mike McGready entdeckte, lebt jetzt in Portland/Oregon und ist mal ein Wirbelsturm in der Wüste, mal ein Rascheln im Präriegras. Er singt wie die Niagarafälle, mit seinen Gitarren könnte man in Texas nach Öl bohren oder einer Señorita in San Diego sanft den Rücken karessieren. So, Ihr Lieben, nun gehet hin und verschafft euch dieses Album – und wenn ihr knapp bei Kasse seid, tragt die Hiatt-Sammlung ins Pfandhaus, ihr könnt sie ja später wieder auslösen, ok? Wenn ihr dann überhaupt noch wollt.
Pink Floyd
„P.U.L.S.E.” (1995)
„Hätten wir damals das aufblasbare Riesenschwein nicht gehabt“, schwant David Gilmour, „hätten wir keine einzige Eintrittskarte verkauft.“ Der Verpackungspomp der Livedoublette „P.U.L.S.E.“ soll ebenso funktionieren. Das Booklet ist ein Hardcoverbuch, der Rücken des Pappschubers blinkt. „Sollte Sie das Blinken verrückt machen“, heißt es, „legen Sie die Hülle ins Auto, damit’s aussieht wie eine Alarmanlage.“ Die revolutionär überflüssige Coverart kaschiert nicht die althergebrachten Klänge. Das Bombasttrio spielt sich linientreu kreuz und quer durchs Repertoire, von „Astronome Domine“ über „Dark Side …” bis „Division Bell“. Man kauft eigentlich nur Verpackung. Und kriegt einen Sound dazu, der die akustische Umsetzung eines aufgeblasenen Riesenschweins darstellt – kurz bevor es platzt.
PJ Harvey
„To bring you my Love” (1995)
Ihr Album schleicht sich auf den leisen Sohlen einer verzerrten Sologitarre in die Rockwelt und wird vielleicht nie mehr daraus verschwinden. So wie Polly Jean Harvey der Gitarre ihre raue Stimme beifügt, wie sie die Orgel schwellen lässt und, im Verlauf der Platte, auf John Parishs bulligen Drums die alte Patti-Smith-Nummer abzieht – das alles riecht nach einem Klassiker. Der Titel „To bring you my Love“ könnte auch ein Madonna-Album schmücken, doch liegen Welten zwischen PJs urwüchsigem Rock und Madonnas Mainstreampop. „What a monsta, what a fight“, singt Harvey, und dieser Kampf ist mal ein zäher, verborgener und mal einer mit gekreuzten Schwertern und Kriegsgeschrei. Eine vibrierende, rohe Platte. Die leisen Sohlen waren trügerisch.
Popsicle
„Popsicle“ (1995)
Großer Pop entsteht gemeinhin aus Talent und Arroganz. Popsicle ersetzen Faktor zwei durch Bescheidenheit. Nicht nur deshalb erinnern die midtempoverliebten Schweden an die britische Legende The Kinks. Sie haben Coolness und Schnauze, einen melancholischen Bassisten und juchzende Rhythmusgitarren, ihr Augenaufschlag ist von skeptischer Traurigkeit und Andreas Mattesons Gesang so beiläufig nasal wie der von Ray Davies. Ah, trauten sie sich doch!, schreit es im Kritiker, der gern dabei ist, wenn Geschichte gemacht wird – doch dieser Schrei ist grundfalsch. Denn sie sind so gut, weil sie sich nicht trauen. Und machen vielleicht deshalb Geschichte.
Prince
„The Black Album” (1995)
Das Symbol schäumt. Vor sieben Jahren ließ es unter dem Namen Prince das „Black Album“ einstampfen, jetzt bringt es die Plattenfirma doch auf den Markt. Dieser vorläufige Höhepunkt eines erbitterten Streits ist Warners Rache für den Namenswechsel, der Tricky-Prince Seitensprünge mit anderen Firmen ermöglicht. Doch was schert’s das Publikum. Es darf sich ergötzen am dunklen, harten, zuckenden Funk von 1987, der zum besten Prince-Material überhaupt zählt: Synthiebläser zum Bäumezersägen, Drums und Computerbeats wie Presslufthämmer, Gitarrenschroffheiten von giftiger Kürze. Wer das klanglich ebenbürtige Bootleg noch nicht hat, kann – laut Warner – noch bis zum 27. Januar zuschlagen. Danach darf das Symbol sich wieder abregen.
Prince alias T.A.F.K.A.P.
„The Gold Experience” (1995)
Das Symbol ist versöhnt mit der Plattenfirma, wir konzentrieren uns wieder auf die Kunst. Davon gibt es viel im Prinzenreich, und ist ein Song mal nicht so toll, reißt der Begnadete ihn raus mit überbordender Arrangementfantasie. „The Gold Experience“ ist ein akustischer Trip ohnegleichen, bietet effektive, elegant am Abgrund des Manierismus entlangschlitternde Klangartistik. Der Künstler, der einst als Prince berühmt war, glänzt mit brillant ausgefeiltem Kunstpop, der seine Klangmittel – ob Harfe, Grillen, Hammond oder Slapbass – zielgenau positioniert. Er ist der Zappa der Black Music. Und würde er als Single nicht das schwachbrüstige Jackson-Fake „Gold“, sondern den staubtrockenen, von der Hammond befeuchteten und dann von Bläsern abgefackelten