3000 Plattenkritiken. Matthias Wagner
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Everything But The Girl
„Walking wounded” (1996)
Damals, als die Welt eine einzige New Wave war, versuchten es Ben Watt und Tracey Thorn mit bitterzartem, jazzigem Folkpop. Mitte der 80er, als der Popjazz boomte, schnupperten sie mal kurz am großen Erfolg. Der Durchbruch, den sie nun erleben, ist diesen Lehrjahren zu danken. Zwar tuckern jetzt raffinierte Junglebeats unter Traceys halbwachem Elfengesang, doch so viel Coolness, Atmosphäre und melodische Raffinesse wären ohne die Routine der gemeinsamen Jahre undenkbar. So sind EBTG die momentan beste Dancepopband der Welt, und diese schwächenlose Platte wird unsterblich werden: als Meisterwerk tanzbarer Melancholie, als Soundskulptur von kühler, synthetischer Schönheit. Und wenn es drauf ankommt, konzertiert das Duo auch einen ganzen Abend lang akustisch, dank der Folkpopphase von damals. Lasst uns davon träumen, dass dieses Album alle Playbackretortenbabys aus den Charts schwemmen möge wie damals die New Wave den bitterzarten Folkpop. Ein schöner Traum, aber ein wenig utopisch.
Frank Zappa
„Läther” (1996)
Zappa-Fans sind wirklich Fanatiker. Sie brauchen jeden Ton des Meisters. Und was Frank 1977 wegen eines Rechtstreits nicht veröffentlichen konnte, legen seine Erben jetzt vor: „Läther“ nämlich, einst als 4-LP-Box geplant, jetzt auf drei CDs gepackt. Drauf ist der komplette Zappa-Kosmos en miniature: Brain’n’ Roll, Orchesterwerke, Gitarrentreibjagden, Zitate, Hörspiele, Jazz, Scherze und viele witzige Wagnisse – ein Mix aus Bekanntem (einiges von „Zappa in New York“), Instrumentalspuren späterer Songs (etwa „Flambay“), Alternativmixe (sogar von „Titties & beer“) und einer Handvoll Unbekanntes, das kein Schrott ist. Drei fantastische Stunden für Zappatisten.
Gary Floyd
„In a dark Room” (1996)
Gary Floyd ist im Herzen ein Gospelsänger. Schon als Chef der Bluesrocker Sister Double Happiness hatte er eine Spur Schmelz zu viel in der Stimme, als dass nicht der Verdacht aufkeimte, sein Bedarf an Erlösung sei noch nicht gedeckt. Nun, im dunklen akustischen Raum seines Soloalbums, nennt er Jesus beim Namen und fleht: „take my troubles away“. Gary Floyd singen zu hören, heißt zu wissen, wie es sich anhörte, würde er weinen: So viel Unterschied ist da nicht. Und auch wenn er losrockt wie die Stones oder sich rauem Countryrock ergibt, immer sitzt ihm der Kloß im Hals. Eine rührende Platte, ernsthaft.
High Llamas
„Hawaii” (1996)
Früher war er bei Microdisney, einer Band, die in eingeweihten Kreisen einen sagenhaften Ruf hat. Und letztes Jahr landete er mit den High Llamas einen Ohrwurmhit („Checkin in checkin out“). Nun kümmert sich der Ire Sean O’Hagan um eine kräftige Erweiterung der Formensprache des Pop. Er löst den Dreiminüter auf, Übergänge verbinden die Teile, und rhythmische Vielfalt ist Vergangenheit. „Hawaii“ trabt über 29 Titel und 74 Minuten so sacht dahin, als wäre die Band halb im Traum; Synthiegezischel wispert dazwischen, Big-Band-Breitseiten fegen über schläfriges Akustikgeplinker, märchenhafte Melodien tauchen auf und verformen sich sanft zur Dissonanz, Filmmusik und Krautrock berühren sich zart mit den Fingerspitzen. Vergleichbar locker und lose verknüpfte einst nur die US-Band Spirit auf „12 Dreams of Dr. Sardonicus“ scheinbar unverträgliche Einzelteile – und das war 1971. Seitdem hat es ein solch verwunschenes Album nicht mehr gegeben.
Hugo Race & The True Spirit
„Valley Of Light” (1996)
Mit synchron zum Gesang gespielter Gitarre und Harmonika plus Krächzbass baut Hugo fiebrige Spannung auf, nur um sie – aufrechtzuerhalten. Wer die finale Ejakulation der Gefühle ersehnt, hofft vergebens. Wir bleiben in der Schwebe, unter uns gähnt der Abgrund, wir stürzen nicht ab und können uns auch nicht retten. Seltsam, welch monströse Gemüter Australien hervorbringt … Doch anders als Nick Cave wurzelt Hugo im Blues, und seine Songs beginnen schon mal mit einem klassischen „well, I woke up this morning“. Gegenüber den Alten jedoch, die immer wussten, was letzte Nacht geschah, kriegt Hugo es einfach nicht raus. Wie im Alptraum.
Jan Garbarek
„Visible World” (1996)
Böse Menschen könnten sagen, es habe noch nie ein derart brillant besetztes Muzakalbum gegeben. Garbarek, der Elegiker des Saxofons, umgibt sich mit Eberhard Weber, Marilyn Mazur, Reiner Brüninghaus, Trilok Gurtu, Manu Katché. Sein Jazz wurzelt in Folklore, ist jedoch oft so belanglos schön, als schriebe er fürs Einkaufsradio. Groß und erhaben aber der epische Schluss „Evening Land“: Den warmen Gesang der Samin Marie Boine umgibt Garbarek mit Marilyn Mazurs Perkussion, Synthieschneegestöber und einem Saxofonton, der so alt scheint wie das Packeis. Es bleibt der positive Ausreißer in einem Meer von Muzak.
Jerry Alfred & The Medicine Beat
„Etsi Shon” (1996)
Der Juno-Award ist der Musik-Oscar Kanadas; Jerry Alfred, Indianer vom Stamm der Tutchone im Yukon Territory, hat ihn gewonnen. Mit seiner Band popularisiert er behutsam das Liedgut der Ahnen, lässt seinen hymnischen Scat-Gesang von E-Gitarrenklängen begleiten, die so weit und klar sind wie das Yukon-Land, das eine halbe Million Quadratkilometer hat, aber weniger Einwohner als St. Pauli. Und manchmal schickt er die Kollegen weg und singt allein zur Handtrommel, ganz wie die Alten. Eine bewegende Platte, die uns nicht mit Fremdheit schreckt und doch nah an den Wurzeln ist – kein geschmäcklerischer Ausverkauf, sondern ein Ereignis.
John Gorka
„Between Five and Seven” (1996)
Natürlich ist das Coverfoto in Schwarz-Weiß. Natürlich schaut John Gorka aus dem Autofenster an uns vorbei in die Welt, die ihm das Rohmaterial für seine Lyrik liefert. Aber seinen Mund umspielt der Anflug eines Lächelns, und auf der Rückseite steht er da mit Gitarre und lacht vergnügt in sich hinein. Gorka ist ein melancholischer Songwriter, doch die Depressionen eines Nick Drake kennt er nicht. Er steht eher in der Tradition von Steve Goodman oder Arlo Guthrie, und Anflüge von Trauer werden sachte aufgefangen von den eingängigen Arrangements der Windham-Hill-Hausmannschaft. Ein reizvoll kühles Album mit schönen grauen Schatten, doch ganz ohne Weltschmerz.
Lewis Taylor
„Lewis Taylor” (1996)
Wer stoppt die Entseelung des Soul durch die Carey/Houston-Fraktion? Nach Ginuwine im letzten Jahr tritt jetzt der englische (weiße) Debütant Lewis Taylor an, dem traditionsreichen Genre Wärme und Ausdruck zurückzugeben. Er tut das mit falsettnahem Gesang am Rande des Understatements – das Expressive eines Otis Redding ist heute nicht mehr denkbar. Und der Exkiffer Taylor verlässt auch musikalisch die eingefahrenen Soulpfade, unterlegt im Alleingang seinen Einworttiteln („Lucky“, „Track“, „Bittersweet“)