3000 Plattenkritiken. Matthias Wagner

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3000 Plattenkritiken - Matthias Wagner

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the Twilight reeling” (1996)

      Noch nie hat einer Chris Barbers Nonsensdixie „Ice cream“ hergenommen, kettensägenmassakriert und dann in die Mülltonne gestopft. Lou Reed nennt diesen Gitarrenschmadder „Egg cream“. Das rohe Stück Fleisch von einem Song scheint der Platte die Richtung vorzugeben, doch das täuscht. Reed ist zwar die Depressionen der „Drella“-Ära los, seine neugewonnene Lebenswut aber hält er überwiegend im Zaum. Um die Fieberhöhe seiner Aggressionen zu ermitteln, nimmt man am besten das Gitarrenthermomenter: laut und elektrisch fürs Manische („Riptide“) und Politische („Sex with your Parents Part II“), akustisch für die Grotesken des Großstadtlebens („Trade in“) und die Balladen. Live im Studio eingespielt, hat das Album eine ähnlich raue, zupackende Art wie die jüngste Stones-Platte. Und Reed schreibt noch immer schlicht-schöne Melodien, denen dennoch jede Seichtheit fehlt – was daran liegt, dass er in seinem ganzen langen Sängerleben noch nie den richtigen Ton getroffen hat.

      Marc Bolan

      „Acoustic Warrior” (1996)

      „Metal guru, is it you, metal guru, is it you …” – so geht das Minuten. Und plötzlich dämmert uns, dass Marc Bolan vielleicht wirklich nur ein Glamstar war. Einer, der halt nur glänzte wie Gold. Weitere Akustikfassungen seiner Hits – gesammelt aus Gigs und Demos – untermauern das. Meist hat Bolan eine einzige Idee zum Song gestreckt, was erst unplugged überdeutlich wird – „metal guru, is it you …” So erkennen wir plötzlich „Main Man“ oder „Telegram Sam“ als Wichte von Songs. Das nackte Elend freilich beschädigt die Studiofassungen nicht, weil Glamrock eben vom Glanz und Gloria der Verpackung lebte, doch es beschädigt das Ansehen eines Mannes, der (auch mir) als Legende galt. Das tut weh.

      Maria McKee

      „Life is sweet” (1996)

      Nein, nicht nur süß ist das Leben, sondern (und so singt sie es auch) „bittersweet“. Eine Erkenntnis, die auch anderen schon dämmerte. Die Rocksongwriterin Maria McKee aber gestaltet diesen Zwiespalt neu. Im Titelstück stellt sie Menschen zwischen Scheitern und Gelingen vor, und die private, mit Sologitarre und Stimme symbolisierte Sicht zu Beginn weitet sich nach drei Minuten zum brausenden Finale: Orchester und Rockband steigen ein – und McKees ekstatischer Gesang gibt der Küchentischgeschichte die Dimension eines existenziellen Dramas. Ein Album, das durchweg dieses dynamische Niveau hält und seine zwiespältige Klangsymbolik konsequent durchhält: bitter die Gitarren, süß die Geigen. Und dazwischen das Leben.

      Michael Hall

      „Day” (1996)

      Er ist einer jener Songwriter, die kaum jemand kennt, deren Musik man aber beim ersten Hören ins Herz schließt. „Day“ ist so voller Traurigkeit und romantischer Anklänge, dass man Hall einfach mögen muss – schon um ihn zu retten, vor was auch immer. Als ewiger Underdog, der bei Insiderbands wie den Wild Seeds spielte, die Indiesupergroup Setters gründete, aber nie so bekannt wurde wie etwa Steve Wynn oder Howe Gelb, zieht er sein Ding kompromisslos durch. Und nach Nummern wie „Los Angeles“ oder „Rise“ würde sich mancher Konkurrent die Finger lecken. „Sweet Train“ eifert atmosphärisch Tom Waits nach, und „Las Vegas“ ist eine ätzendschöne Hymne auf falschen Glamour. Den nämlich nimmt Hall stets unter die Lupe, wenn er von desorientierten Soldaten, untreuen Priestern oder gelangweilten Hausfrauen singt.

      Motörhead

      „Overnight Sensation” (1996)

      Lemmy Kilmister ist 50, und er beäugt die Zeitschrift kulturnews, die ich ihm als Legitimation für mein Interview mitgebracht habe, mit Skepsis. „Kultur?“, krächzt er, „If I hear Kultur, I pull my gun.“ Trotz des imposanten Patronengürtels, der einen Teil seines überlappenden Bauchs stabilisiert, fühle ich den Drang, Lemmys Meinung zu korrigieren. „Äh, Lemmy“, sage ich, „du bist doch ein Teil davon … irgendwie.“ Lemmy wirft zwei Eiswürfel in seinen Jim Beam, den er in einem für die Brause beschämenden Verhältnis mit Cola verdünnt hat, und zieht an der Kippe. „Yeah“, schnauft er, „irgendwie.“ Nach 25 Jahren Shouting für Hawkwind und Motörhead ist er die Ikone des Genres, und seine Stimme klingt, als rutschte ein Schlitten über Sandpapier. Würde man Lemmy schockfrosten und in einem Hard Rock Café aufstellen, empörten sich die Gäste gewiss über die geballte Ladung Metalklischees, mit der das Denkmal ausstaffiert wäre: schwarzes Hemd mit Brustblick und hochgerollten Ärmeln, Kette mit eisernem Kreuz um den Hals, Tattoos an den Armen („Born to lose/Live to win“), pferdeaugengroße Totenkopfringe an den Pranken, eine zu enge Hose mit Schlag und dazu weiße Spitzstiefeletten, die geputzt werden müssten. Wenn die Lemmy-Statue weibliche Cafégäste erblickte, würde sie „silly cow“ röcheln. So nennt er jedenfalls (wenn sie grad nicht da ist) die Blonde von der Plattenfirma, die dafür sorgt, dass ihm Whisky, Eis und Cola nicht ausgehen – in dieser Reihenfolge. Damals, 1975, war es Lemmys Idee, Motörhead mit „ö“ zu schreiben. Das sah deutsch aus, und die Deutschen, Mann, sind für einen Engländer echt „mean“. Ein Stichwortinterview schont seine Kehle. Let’s go: seine arme Stimme … ? „Hat sich zur Ruhe gesetzt.“ Der Zustand seiner Ohren? „Ich hab’ genau verstanden, dass du mich das gefragt hast.“ Exduettpartnerin Samantha Fox (… the breast and the beast, haha): „Geschichte.“ Britisches Rindfleisch? „Geschichte.“ Drogen? „Naturgeschichte.“ Techno? „Bald Geschichte.“ Lemmy trinkt schnell, raucht schnell und denkt schnell. Tanzen? „Ich tanze nicht. Except for the totentanz, hehehe.“ Lemmy wirft Eis nach und füllt mit Whisky auf. Es ist 16 Uhr elf an einem Dienstag. Wir sind in einem Hotel, das bevölkert ist von ältlichen Frauen. Der Häkelclub Hodenhagen in der Großstadt. Und in einem der Zimmer, davon wissen die Damen nichts, sitzt Lemmy Kilmister, den der Melody Maker für „radikal, roh, barbarisch, verrückt“ hielt. Was davon stimmt heute nicht mehr? „Nichts“, seufzt Lemmy, „alles stimmt.“ Danke, sage ich. „Das war leicht“, sagt Lemmy. Beim Handshake fühle ich den Totenkopfring. Durch die Lobby wuseln Häkeldamen. Wahrscheinlich wollen sie heute abend ins „Phantom der Oper“. Und Lemmy hat ein neues Motörhead-Album am Start, es heißt „Overnight Sensation”.

      Nick Cave & The Bad Seeds

      „Murder Ballads” (1996)

      Grauen, Drama, Düsternis; und Frauen wie Kylie Minogue und PJ Harvey, die sich mit diesem blutrünstigen Monster einlassen: buah. „Murder Ballads“ stürzt uns in den Abgrund und verspricht nur das, was auch zu halten ist. Die Bad Seeds umgeben den apokalyptischen Reiter Cave wie der schwarze Umhang Dracula. Während „Let Love in“ letztes Jahr noch mit morbider Melodik an Popstandards erinnerte, geht Nick Cave hier nur einmal den Weg des schönen Scheins, unter dessen Oberfläche es brodelt wie in Filmen von David Lynch: im Hit „Where the wild Roses grow“. Der Rest ist quälend, manchmal schier endlos, oft nervenzerrend – also genau die richtige Art, Geschichten von Massakern in Stammkneipen zu erzählen.

      Nigel Kennedy

      „Kafka” (1996)

      Nein, ein Konzeptalbum ist das nicht, sagt Kennedy, der Klassikgeiger mit dem Hang zur frohgemuten Grenzverletzung. Immer, wenn man Nigel ernst nehmen will, stellt man fest, dass er das Ganze lieber locker sieht. Das Album „Kafka“ versammelt seine im Lauf der Jahre komponierten Rock- und Popsongs – ein erster U-Versuch nach Riesenerfolgen im E-Genre. „Kafka“ ist kein Konzeptalbum, sondern ein Zwitter: gewaltige, slawisch angehauchte Geigenwildheiten, trillierende Sopranstimmen, funkige Gitarren, unfassliche Kitschmelodien, aber auch Tonfolgen, die bezirzend schön sind. Nigel, einmal in Fahrt und umgeben von Stars, dilettiert gar auf Gitarre und Saxofon. Warum

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