3000 Plattenkritiken. Matthias Wagner
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John Mayall & The Bluesbreakers
„Padlock” (1999)
Seit Dekaden spielt der Brite einen Blues, dem das Klavier die Sporen gibt und Bläser die Peitsche. Er sah, wie die Alten dahingingen und seine Zöglinge (Jagger, Clapton, Page …) aufgingen im Rock. Mayall aber spielte weiter seinen Stil, auch als Anfang der 90er die Legende, der Blues sei ewig, kurz neue Nahrung erfuhr durch die verchromte Version eines Robert Cray. Wahr ist: Der Blues stirbt. Oder er verkocht im eigenen Saft zur ungenießbaren Melasse. Aber Mayall macht weiter. Mit dem gleichen Fieber, der gleichen leisen Hysterie in der Stimme wie anno 1963. Das rührt und macht melancholisch. Spätestens mit Mayall wird der Blues wirklich sterben.
Karamasov
„On Arrival” (1999)
Postrock macht natürlich vor Elektronik nicht halt. Das „Post“ im Postrock sagt ja, dass vor allem die Begrenzungen durch die Gitarre nicht mehr akzeptiert werden. Und die Variante von Karamasov, einer Ablegerband von Pyogenesis, nutzt die Elektronik subtil, aber gern, verzichtet allerdings auch nicht auf Verschlurftes zur Gitarre. Manchmal verdaddelt man sich, macht aber nix. Irgendwo ist immer ein Türlein, durch das man wieder zurückfindet zum einfachen, introvertierten Riff, das der Rest wieder aufgreifen kann auf seiner langsamen instrumentalen Reise ins Nirgendwo. Denn genau da will der Postrock hin. Auch der von Karamasov.
Karl Ritter
„Stick to it” (1999)
Sobald irgendeiner den Mittelfinger übern Gitarrenhals rutschen lässt, schreit alles begeistert: „Ry Cooder!“. Bei Karl Ritter tut das sogar seine eigene Plattenfirma. Pech. Denn Ritter vermag zwar der Gitarre auch Stimmungen zu entlocken, die wie in der Sonne flirrende Riesenkakteen im Raum stehen, doch wurzelt sein Verständnis der Gitarre durchaus nicht komplett in US-amerikanischen Traditionen. Auch die europäische Avantgarde redet ein, zwei Wörtchen mit. Ritter schickt die Klänge Ton für Ton auf Reisen, und er sinniert ihnen oft lange hinterher. Auch uns gibt das Zeit, über musikalische Strukturen nachzudenken. Sofern wir uns dem Pawlow’schen inneren Schrei „Ry Cooder“ verkneifen können.
Kim Salmon & The Surrealists
„Ya gotta let me do my Thing” (1999)
Holpernd schleicht sich dieses Album in die Welt, ein grober Bass rollt an, verschmierte Bläser quietschen, und zu rußigen Kohlenkellerdrums kreischt der Urgrunger und Ex-Beast-Of-Bourbon Kim Salmon: „I won’t tell!“, und zwar etwa so, wie es David Byrne damals gemacht hätte, als er noch der Psychokiller war. Eine Mischung aus Neowave und Garage, aus Talking Heads und Who bietet Salmon auf, um neumodischer Gelecktheit die gute alte Schule des 80er-Jahre-Undergrounds entgegenzuhalten. Das ist nicht schön, aber heftig; das ist nicht eingängig, aber wirksam – wie ein Schlammbad im Abendkleid. Es geht also noch, roh zu sein und herumzustolpern vor lauter Ungestüm und sich einen Teufel zu scheren ums Feinsinnige. Gute, dreckige Musik, der es um Alkohol und Voyeurismus geht – und einmal auch darum, im Reißverschluss festzustecken.
King Crimson
„The ProjeKcts” (1999)
Zuletzt bekam Robert Fripp die legendäre Artrockcombo nur noch selten zusammen. Kurzerhand rief er daher die „Fraktalisierung“ aus: Wer immer aus der Band mit einem anderen Mitglied musiziert, tut das seither als King-Crimson-„ProjeKct“. Eine Viererbox fasst nun die Konzerte aller „ProjeKcts“ seit 1997 zusammen – zur erregenden, aber auch strapaziösen Reise an die Ränder der Populärmusik, wo Rock, Jazz, Noise und Avantgarde miteinander tanzen. Beim „ProjeKct One – Live at the Jazz Café“ (mit Levin, Gunn, Bruford, Fripp) etwa packt uns ein dichter, hektischer, oft majestätischer Strom aus Grooves und Gitarrenlärm, reißt uns hinab in dunkle Höhlen mit seltsamen Seitengängen. Erstaunlich, wie vital und innovativ die Experimente der Artrockhaudegen noch immer klingen. Seit 30 Jahren kreativ – keine andere Band der Welt hat das je geschafft.
Labradford
„E luxo so” (1999)
„Ich war eins jener Kids, die daran glaubten, dass wir alle bald zum Mond fliegen würden“, erinnert sich Mark Nelson. Dazu kam es nicht, doch die Musik, die er (g, voc, tapes) mit Carter Brown (synth) unterm Namen Labradford komponiert, eignete sich prächtig als Soundtrack zu einer solchen Reise. Ihre majestätische Ruhe erinnert an die (scheinbare) Statik von Raumschiffen in der Umlaufbahn, während unten die Erde still durchs All rollt. Es scheint, als sei Harold Budd, der Ambientelegiker des Pianos, in Amerika angekommen. Wenn man einschläft bei dieser Musik – was vorkommen kann, aber kein Nachteil ist –, dann sind wehmütige, schwerelose Träume garantiert.
Liquido
„Liquido” (1999)
Uups: Ausgerechnet aus Heidelberg kommt die erfrischendste Verquickung eingängiger 80er-Elektronik mit 90er-Rock. Liquido führten sie im Sommer mit ihrem naiv elektronifizierten „Narcotic“ sogar bis hoch in die Charts. Auf ihrem Debütalbum ist der Synthieanteil geringer, doch das Ohrwurmquantum halten sie lässig. Die Fülle heimlicher Singles wie „Wake me up“ oder „What you keep inside“ widerlegen die vorauseilende Vermutung, wir könnten hier einem One-Hit-Wonder live beim Werden und Vergehen zuschauen. Liquido wollen oben bleiben, und so, wie sie Monsterriffs abschießen, wie sie nach Herzenslust mit der Dynamik spielen und uns verschwenderisch mit Melodien beschenken, haben sie das Zeug dazu. Breitwandrock mit Stil. Nach 42 Minuten ist das Album aus; mehr kann man nicht verlangen von ein paar Jungs aus Heidelberg, die Tim Eiermann oder Wolle Maier heißen und trotzdem ausziehen, die Welt zu erobern.
Lyle Lovett
„Step inside this House” (1999)
Manko: Mit gerade mal gut 80 Minuten Musik hätte man nicht unbedingt ein Doppelalbum produzieren müssen. Lyle, reumütig aus Julia Roberts’ Glamourwelt zurückgekehrt zu seinen texanischen Buddys, erweist ihnen die gebührende Ehre. Obgleich selbst ein passabler Songwriter, ehrt er diesmal die Songs größerer Kollegen: Steven Fromholz, Guy Clark, Townes Van Zandt, Eric Taylor, Vince Bell und viele andere. Doch gerade die durchweg traditionellen, halbelektrischen Arrangements verwischen leider alle Unterschiede. Am Ende ist alles, was wie Hyatt oder Keen anfing, zu Lovett geworden. Also zu geleckt schimmerndem Mittelmaß. Aber Hauptsache, er ist wieder zurück aus Julia Roberts’ Glamourwelt.
Lynden David Hall
„Medicine 4 my Pain” (1999)
LDH