3000 Plattenkritiken. Matthias Wagner
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Wahnsinn, was dieser Band für ein Ruf vorauseilt. Nämlich der: „als einzige Band ohne Plattendeal im letzten Jahrtausend die Batschkapp ausverkauft zu haben“. Zitat Ende. Nichthessen wissen wohl nicht, dass die Batschkapp ein mäßig großer Frankfurter Club ist. Noch weniger Leute wissen, was Cashma Hoody ist: eine Frankfurter Band nämlich, was – in Anbetracht der üblichen Mobilisierung aller Freunde und Familienmitglieder – das Ausverkaufen der Batschkapp deutlich relativiert. Ihr lustvoller Reggaerock vermag ein Livepublikum sicher in eine Masse wogender Leiber zu verwandeln, doch auf CD ist das alles blutarm, da tendenziell überproduziert. Außerdem will mir partout kein Argument einfallen, warum ich Reggae aus Frankfurt hören soll. Oder Country aus Kamen. Oder Irish Folk aus Winsen an der Luhe.
Cherry Poppin’ Daddies
„Soul Caddy” (2000)
Die Band aus Oregon gehört im weiteren Sinn zum New-Swing-Revival, das Brian Setzer anführt, doch ihre Mixtur ist rock- und boogielastiger; sie verstehen es besser, einem die uralten Stile im kunterbunten Popkleid unterzujubeln – und oft genug auch in einer löchrigen Rockerlederkluft mit Punkstickern. Nur für kochenden Soul ist Steve Perrys Stimme etwas zu dünn. Manches Stück legt los mit Bläserbreitseiten und verebbt im schmutzigen Schweinerockriff. Und immer trägt Perry dazu seine kniehohen silbernen Schnürstiefel, als wenn Elvis’ Mitt-70er-Glamanzug nicht Ziel- und Endpunkt dieses egomanischen Stils gewesen wäre. So wird der Mann es noch weit bringen.
Coldplay
„Parachutes” (2000)
Am beeindruckendsten sind nicht die Songs, obgleich sie wunderbar sind. Sondern die Gelassenheit, mit der Coldplay sie vortragen. Dabei würden die Lieder mit ihrem epischen Understatement schon ausreichen, diese Band berühmt zu machen. Doch Coldplay hätten sie zerstören können, wären sie so hibbelig, wie man es Newcomern gern verzeiht. Ihre Ruhe aber ist überwältigend. Diese Band glaubt an sich, vielleicht sogar an eine Mission. Sie bringt Größe und Erhabenheit zurück in den Britrock, sie weiß um die unbezwingbare Kraft eines simplen Akustikgitarrenriffs und um die Wirkung eines Songs, der mit geschlossenen Augen gesungen wird. Ein intensives Album. Kein Ton zu viel, keiner zu wenig. Und nicht einer banal.
Cristian Vogel
„Rescate 137” (2000)
Wenn es „Intelligent Techno“ (IT) gibt, muss dann nicht der große Rest des Genres als strohdumm gelten? Logisch. Cristian Vogel aus Brighton findet allerdings auch IT inzwischen öde. Seine schroffen, bewusst hermetischen Alben der letzten Jahre ließen das auch jeden wissen. Doch das Kritikastertum lähmte auch seine Kreativität. Er musste sich befreien, Input aus alten Genres musste her: Rock, Pop, Funk. So klingt „Rescate 137“ bisweilen erdig wie ein Schamanentanz im afrikanischen Busch. Seine typisch eiskalte Hektik, die einen entweder betäubte oder kirre werden ließ, weicht nun einer gewissen Wärme, analoge Klänge lugen aus dem Dickicht. Doch keine Panik: Wenn der komische Vogel wirklich will, dann klingen seine Breakbeats noch immer absurder als alles andere auf der Welt – Beweis: das Ende von „Wind from Nowhere“.
Dave Matthews Band
„Listener supported” (2000)
Ein Jazzintro: freie Perkussion, ein jammerndes Sax. Erst allmählich kommen jene Stile ins Spiel, die, wohltemperiert gemischt, der Band aus Virginia den immensen US-Erfolg bescherten: Folk, Rock, Country, Latinflair. Dennoch werden die Studioalben überschätzt; erst live, wie auf dieser Doppel-CD, erschließen sich die Gründe der Matthews-Mania. Sie liegen im ausufernd improvisierten Spiel, im Abzweigen auf jene mäandernden Straßen, die einst Grateful Dead planierten. Man spürt, wie beseelend ein solcher Konzertabend sein muss, trotz des mittelmäßigen Gesangs von Matthews. Doch es ist eben die pulsierende, verschachtelte Instrumentalspur, welche die Band auf die Bühne legt wie kaum eine andere. Grateful (Half-)Dead.
David Carretta
„Le Catalogue Electronique” (2000)
Fronkreisch, du hast es gut: Die Houseszene boomt, gallische Elektronik ist ein Hinhörer. Carretta kommt aus Toulouse, vom Rand also, und sein „Catalogue Electronique“ wirkt, als hätte er seine Sounds und Beats nur geschaffen, um ihnen anschließend drei Viertel der Substanz wieder wegzuschneiden. Übrig bleibt ein gleichsam zweidimensionaler Technohouse, der nirgends in die Tiefe geht. Abgehackte Beats grundieren bläserhafte Synthieschlieren; manchmal nähert sich das emotionslose Gewusel gar scheu der Musik von Steve Reich oder den selbstgebastelten Klängen des frühen Wave. Spröde, schroff und packend – ein Gegenentwurf zur Listeningseligkeit, die ja ebenfalls ihre Basis in Frankreich hat.
David Gray
„White Ladder” (2000)
Wenn einen Joan Baez zum „bedeutendsten Dichter seit Bob Dylan“ ausruft, muss das nicht unbedingt erhebend sein. Es könnte sich schließlich a) um den unangemessenen Annäherungsversuch einer ergrauten Folkdame handeln und b) zu einer Bürde werden, die man für den Rest seiner Karriere nicht mehr los wird. David Gray hat auch so seine Probleme gehabt in der Vergangenheit, doch jetzt ist alles fantastisch: Sein Album ist voller brillanter Songs wie „Babylon“ oder „Please forgive me“ und der Erfolg zu Hause in England außergewöhnlich. Grays Gesang hat viel von jener urtümlichen Kraft der mittleren Dylan-Phase, seine Musik aber ist näher an „Series of Dreams“ als an „Tombstone Blues“. Und die Energie seiner Songs, das Beharren auf große Phrasen, die Wiederholungen: All das ist junger Van Morrison. Sagen wir, wie es ist: David Gray ist großartig. Eine Adrenalininjektion fürs Songwritergenre.
David Sylvian
„Everything & nothing” (2000)
In der Spaßgesellschaft wirkte David Sylvian immer wie ein Fremdkörper. Dabei hätte er als Coverboy Karriere machen können. Doch der britische Sänger war immer ein Tiefschürfer; sein Artpop war stets ausgetüftelt und ernst. Er schuf Alben, die wirkten wie Trips durch fremde Länder und ungeahnte Soundwelten. Die vorliegende Doppel-CD überblickt zwei Dekaden seiner Kunst mit der Band Japan und solo, inklusive neuer und neu eingespielter Stücke. Natürlich ist die Auswahl song- und nicht ambientorientiert. Und sie ist repräsentativ, obgleich der beste Japan-Song, „Nightporter“, aus unerfindlichen Gründen fehlt. Neben der vergriffenen „Weatherbox“ ist dieses Album der beste Einstieg ins Werk eines Individualisten, der Coverboy hätte werden können, doch die große Kunst vorzog.
Dazerdoreal
„Hard Disc to Hell” (2000)
Mischen ist nicht nur possible, sondern nötig, gerade im neuen Jahrtausend. Wenn das so gut gelingt wie hier, ist dagegen nichts zu sagen. Im Gegenteil: Selten durchdrangen sich moderne Pop- und Dancestile zu einem ähnlich bedrohlichen Düsterpop. Dissonante Gitarren irren durch zischelnde, pumpende Loops, während Aydo Abay singt, als wäre er kurz vorm Einnicken. Das erstaunliche Debüt dieses Koblenzer Quartettes erinnert in den besten Momenten an den Kunstpop David Sylvians, aber es hat mehr Groove. Auch wenn der in den dunkelsten Ecken der Stadt zu Hause ist. Kein Wunder, dass manche Stücke Titel tragen wie „Apocalyptic Happiness“ oder „Lost in Phase“.
Deep Purple
„In Concert with The London Symphony