3000 Plattenkritiken. Matthias Wagner
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу 3000 Plattenkritiken - Matthias Wagner страница 71
Enigma
„The Scream behind the Mirror” (2000)
„People talk to much for what they have to say“, erkannte Michael Cretu in einem lichten Moment, der indes nicht licht genug war, um in Selbsterkenntnis zu münden. Nach 22 Millionen verkauften Alben hatte Cretu natürlich kein Fitzelchen Anlass, sein Rezept zu ändern: bombastische Chorsamples (diesmal – sehr originell – aus „Carmina Burana“) plus populär getaktete Elektronik plus weibliche Stimmchen. Man muss die Klangkreation für ihre von Bescheidenheit ungetrübte Gigantomanie bewundern, und man muss sie abstoßend finden für die Hemmungslosigkeit des Plündergeistes, der dahinter steht. Manchmal klingt das, als poussierte Dieter Bohlen mit Hildegard von Bingen.
Eric Clapton & Mark Shaiman
„The Story of us” (2000)
Ein gutes Clapton-Album durch die Hintertür eines schlechten Films – okay, her damit. Der Ex-Gitarrengott schrieb gemeinsam mit Mark Shaiman große Teile des Scores zu „The Story of us“, der aufgefüllt wird mit klassischem Jazz von Ruby Braff oder den Andrew Sisters. So intim und akustisch, so in sich gekehrt und sparsam hätten wir uns den Meister öfter gewünscht in den letzten Jahren. Hier begegnen wir ihm, wie er auf einem Barhocker sitzt und liebliche Skizzen klimpert, während ein einsamer Perkussionist, manchmal auch ein Geiger, dem Ganzen die Grundierung geben. Die einschläfernde Liveversion von „Wonderful tonight“ ist da völlig unnötig. Genau wie das Finale, wo sich ein Streichorchester beinah wieder zum windelweichen Clapton-Sound der 90er bläht.
Esbjörn Svensson
„Good Morning Susie Soho” (2000)
Esbjörn hat die Haare ab. Und das bedrückende Grollen aus den tiefsten Tiefen des Flügels, mit dem das Album beginnt, lässt letzte Erinnerungen an Hippieattitüden verblassen. Doch keine Angst: Der schwedische Pianist, sein Bassmann Dan Berglund und der Schlagzeuger Magnus Öström spielen noch immer keinen artifiziellen Jazz, sondern einen sehr sinnlichen. Hier wird den Akkorden hinterher gelauscht, wir bekommen Zeit, uns in der Architektur der Klänge zu bewegen, uns in Ruhe umzuschauen. Wenn diese drei wollten, wie sie könnten, sie würden uns die Ohren abfrickeln. Tun sie aber nicht. Dieser Triojazz ist schön und erotisch, auch mal funky oder sanft elektronisch („Last Letter …“) – sein halbdunkles Flair hallt lange in uns nach. Und warum gibt es eine Susie im Albumtitel? „Weil wir Frauen mögen“, sagt Svensson.
Eskobar
„’Til we’re dead” (2000)
Sich an Künstlern wie Nick Drake oder Mazzy Star zu orientieren, muss kein Qualitätsmerkmal sein, wenngleich es natürlich von gutem Geschmack zeugt. Das gelassene Trio Eskobar kommt nicht aus Kolumbien, sondern aus Schweden; es hat diese Vorbilder studiert und sich – zum Glück – anverwandelt, statt es beim Imitat zu belassen. Seine ruhegeborene Musik hat viel Gespür für Atmosphäre und den Gefühlsgehalt von Melodien, aber auch bisweilen eine Glätte, die man gerne abschmirgeln würde. Im Opener tasten sich gespenstisch verhallte Gitarren durch den Raum, der sich allmählich füllt mit verhaltenen Keyboards und Gesang, doch das größte Slo-Mo-Stück ist „She’s not here“: pathetisch karg, ein Klassiker in spe. „Das ist keine Partymusik“, sagt Drummer Robert Birming, „eher eine für danach.“ Stimmt. Wie die von Nick Drake und Mazzy Star.
Etienne de Crécy
„Tempovision“ (2000)
In keinem House der Welt schmust sich’s besser als im französischen, und wenn man Etienne de Crécy des Kitsches zeihen würde wegen seiner orchestralen, mittelmeerwarmen Sounds und Beats, dann würde er ein breites „Na klar! Na und?“ zurück grinsen, und dann wäre man fertig. Wie er seinen Maschinenpark zirpen und wehen, darin manchmal eine Soulstimme Phrasen dreschen und ein original 80er-Synthiegezwirbel sich austoben lässt, das hat natürlich Stil und Eleganz. Er ist nicht so überwältigend chillig wie Air, führt uns aber lächelnd von der Couch auf die Tanzfläche. Und dort lässt dann die Schwerkraft immer mehr nach.
Everlast
„Eat at Whitey’s” (2000)
Everlast ist modern, weil er Traditionalist ist. Er ist ein Chamäleon mit eigenem Stil. Er integriert Stile und Gäste; wenn er die Ufer wechselt, ist er dort kein Fremder. Zwischen Blues, Akustiksongs und Rap wechselt Everlast nicht mal das Hemd. Unbezahlbar seine Stimme. Sie klingt, als wären Tom Waits und Captain Beefheart eine Person. Ihre Rauheit und Ausdruckskraft funktioniert in allen Genres, obwohl er sie niemals expressiv einsetzt. Sie hält Santanas Gitarre nieder, sie tanzt Duette mit N’Dea Davenport, sie surft auf Streichern. Und immer – auch wenn der gelernte Rapper eine seiner vielen Akustikklampfen zupft oder das Tempo gedimmt wird zur Überballade wie in „Love for real“ – groovt sein Mischmasch wie die Hölle. „Ist das die Zukunft des Rock?“, fragte mich neulich ein Kollege. Aber es war eigentlich keine Frage. Sondern eine Feststellung.
Fessler
„Signatures” (2000)
Achtung: Rutschgefahr! Fessler heißt Peter mit Vornamen, und er war früher erfolgreich mit Trio Rio; heute ist sein verjazzter Latinpop so glatt wie frischgebohnertes PVC – oder, in besseren Momenten, wenigstens wie der seines Seelenverwandten Michael Franks. Fessler liebt lieblich perlende Gitarrenläufe und einen Scatgesang, der gern die Kopfstimme touchiert. Er liebt es, wenn Till Brönner betörende Saxofonsoli beisteuert, und mit der Copacabana im Herzen flötet er Hommagen an Delfine. Ein Segen für die Nachtschiene der ARD-Rundfunksender, wo „Signatures“ als Loop laufen könnte, ohne dass sich Krankenschwestern im Schichtdienst oder Brummikapitäne auf Überlandfahrt auch nur eine Sekunde daran stören würden.
Filibuster
„Deadly hifi” (2000)
Die Streitigkeiten zwischen dem notorisch geilen Macho namens Tenorsax und seinen Saitensaufkumpanen Gitarre und Bass sind grob und laut. Nun, wer im Ska das bedächtige Austauschen von Argumenten erwartet, ist eh auf dem falschen Dampfer. Das Sextett Filibuster aber besteht aus derart rauen Gesellen, dass selbst der Produzentenstar Steve Albini die freiwerdende Energie gerade mal kanalisieren, nicht aber bändigen konnte. Mit diesem Furor werden sie das Skarevival auch in Europa vorantreiben. Den Skatalites haben sie auf der Tour im Herbst schon manches Mal die Schau gestohlen. Und das will was heißen.
Fiona Apple
„When the Pawn …” (2000)
Nach ihrem überragenden 96er Erfolg mit „Tidal“ wurde die jugendliche Sängerin, Pianistin und Poetin Fiona Apple schnell ein Opfer des frühen Ruhms – Teenagerschicksal. Drei Jahre danach serviert sie uns erneut ein schweres, bewegendes Werk. Produzent Jon Brion umrankt die bisweilen schwermütige Lyrik mit dramatischen Streichern, Orgeln und Elektronik, und die stolpernde Rhythmik dieser Musik zeugt vom Stau der Gefühle