Marie Antoinette. Stefan Zweig
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Aber schöpferische Kraft, sie bleibt immer nur an den Menschen gebunden, den sie erfüllt; nur der Kronreif vererbt sich, nicht die ihm eingeschlossene Macht und Majestät. Enge, gefühlsschwache und genießerische Seelen, nicht mehr gestaltende, erben mit Ludwig XV. und Ludwig XVI. den weiten Palast, das groß gegründete Reich. Äußerlich bleibt unter ihnen alles unverändert: die Grenzen, die Sprache, die Sitte, die Religion, die Armee; zu stark hat jene entschlossene Hand die Formen geprägt, als daß sie in hundert Jahren verlöschen könnten, aber bald fehlt den Formen der Inhalt, die glühende Materie des schöpferischen Triebes. Als Bild verändert sich Versailles unter Ludwig XV. nicht, nur an Bedeutung: noch immer wimmeln in prachtvollen Livreen dreitausend, viertausend Bediente in den Gängen und Höfen, noch immer stehen zweitausend Pferde in den Ställen, noch immer funktioniert in wohlgeölten Scharnieren der künstliche Apparat der Etikette bei allen Bällen, Empfängen, Redouten und Maskeraden, noch immer paradieren durch die Spiegelsäle und goldschimmernden Gemächer die Kavaliere und Damen in brokatenen, seidenplissierten und edelsteinbesetzten Prunkkleidern, noch immer ist dieser Hof der berühmteste, raffinierteste und kultivierteste des damaligen Europa. Aber was vordem Ausdruck strömender Machtfülle gewesen, ist längst nur noch Leerlauf und seelenloser, sinnloser Betrieb. Wieder ist ein Ludwig König, aber er ist kein Herrscher mehr, sondern ein gleichgültiger Frauenknecht; auch er versammelt Erzbischöfe, Minister, Feldherren, Architekten, Dichter, Musiker um den Hof, aber so wie er selbst kein Ludwig XIV., so sind jene keine Bossuets mehr, keine Turennes, Richelieus, keine Mansarts, Colberts, Racines und Corneilles, sondern ein stellengieriges, geschmeidiges, ränkesüchtiges Geschlecht, das bloß genießen will, statt zu gestalten, nur am Geschaffenen schmarotzen, statt es mit Willen und Geist zu durchbluten. In diesem marmornen Treibhaus entfalten sich keine kühnen Pläne mehr, keine entschlossenen Neuerungen, keine dichterischen Werke, nur die Sumpfpflanzen der Intrige und Galanterie schießen hier üppig auf. Nicht die Leistung entscheidet mehr, sondern die Kabale, nicht das Verdienst, sondern die Protektion; wer am tiefsten beim Lever vor der Pompadour oder Dubarry den Rücken bückt, kommt am höchsten hinauf; statt der Tat gilt das Wort, statt des Wesens der Schein. Nur füreinander spielen sich diese Menschen in ewiger Inzucht ihre Rollen als König, als Staatsmann, als Priester, als Feldherr mit sehr viel Grazie völlig zwecklos vor; Frankreich, die Wirklichkeit, haben sie alle vergessen, nur an sich denken sie, an ihre Karriere, ihr Vergnügen. Versailles, von Ludwig XIV. als Forum Maximum Europas gedacht, sinkt unter Ludwig XV. herab zu einem Gesellschaftstheater adeliger Amateure, allerdings dem künstlichsten und kostspieligsten, das jemals die Welt gekannt hat.
Auf dieser großartigen Bühne erscheint jetzt mit dem zaudernden Schritt der Debütantin zum erstenmal ein fünfzehnjähriges Mädchen. Sie spielt zunächst nur eine kleine Proberolle: die der Dauphine, der Thronfolgerin. Aber die hochadelige Zuschauerschaft weiß, dieser kleinen blonden Erzherzogin aus Österreich ist für später die Hauptrolle in Versailles zugedacht, die Rolle der Königin, deshalb richten sich sofort nach ihrer Ankunft alle Blicke neugierig auf sie. Der erste Eindruck ist vortrefflich: seit langem hat man kein so reizvolles Mädchen hier auftreten sehen, das bezaubernd schlanke Figürchen wie aus Sèvres-Biskuit, der Teint wie bemaltes Porzellan, muntere blaue Augen, ein behender, übermütiger Mund, der auf das kindlichste zu lachen, auf anmutigste Weise zu schmollen versteht. Tadellos die Haltung: ein beschwingter graziöser Schritt, entzückend im Tanz, aber doch – man ist nicht umsonst Tochter einer Kaiserin – eine sichere Art, aufrecht und stolz durch die Spiegelgalerie zu schreiten und nach rechts und links ohne Befangenheit zu grüßen. Mit schlecht verhehltem Ärger erkennen die Damen, die in Abwesenheit einer Primadonna noch die erste Rolle spielen dürfen, in diesem schmalschulterigen und noch nicht ausgewachsenen Mädchen die siegreiche Rivalin. Nur einen Haltungsfehler muß die strenge Hofgesellschaft allerdings einmütig vermerken: dieses fünfzehnjährige Kind hat den merkwürdigen Wunsch, statt steif, sich kindlich unbefangen in diesen heiligen Hallen zu bewegen; ein Wildfang von Natur, saust die kleine Marie Antoinette fliegenden Rocks im Spiel mit den jüngeren Brüdern ihres Gatten herum; noch kann sie sich nicht an die öde Abgemessenheit, an die gefrorene Zurückhaltung gewöhnen, die hier von der Gemahlin eines königlichen Prinzen unablässig gefordert wird. Bei großen Gelegenheiten weiß sie sich tadellos zu benehmen, da sie ja selbst in einer ebenso pompösen, der spanisch-habsburgischen Etikette aufgewachsen ist. Aber in der Hofburg und in Schönbrunn gebärdete man sich nur bei feierlichen Anlässen so feierlich, man holte zu Empfängen das Zeremoniell wie ein Galakleid hervor, um es aufatmend abzulegen, sobald die Heiducken die Tür hinter den Gästen geschlossen hatten. Dann lockerte man sich auf, wurde gemütlich und familiär, die Kinder durften munter tollen und lustig sein; man bediente sich zwar in Schönbrunn der Etikette, aber man diente ihr nicht sklavisch wie einem Gott. Hier jedoch, an diesem preziösen und überalterten Hof, lebt man nicht, um zu leben, sondern einzig, um zu repräsentieren, und je höher einer im Rang steht, um so mehr Vorschriften. Also um Himmels willen nie eine spontane Geste, nur um keinen Preis sich natürlich geben, das wäre ein nicht wieder gutzumachender Verstoß gegen die Sitte. Von früh bis nachts, von nachts bis früh immer nur Haltung, Haltung, Haltung, sonst murrt das unerbittliche Schranzenpublikum, dessen Daseinszweck sich darin erschöpft, in diesem Theater und für dieses Theater zu leben.
Für diesen gräßlichen gravitätischen Ernst, für diese Zeremonieenheiligkeit von Versailles hat Marie Antoinette weder als Kind noch als Königin je Verständnis gehabt; sie begreift die fürchterliche Wichtigkeit nicht, die hier alle Menschen einem Kopfnicken, einem Voranschreiten beimessen, und wird sie niemals verstehen. Von Natur aus eigenwillig, trotzig und vor allem hemmungslos aufrichtig, haßt sie jede Art Eingeschränktheit; als echte Österreicherin will sie sich gehen lassen, sich leben lassen und nicht ständig diese unerträgliche Wichtigtuerei und Wichtignehmerei erdulden. Wie sie sich zu Hause von ihren Schulaufgaben gedrückt hat, so sucht sie auch hier bei jeder Gelegenheit ihrer strengen Hofdame, Madame de Noailles – die sie höhnisch »Madame Etikette« nennt, – zu entwischen; unbewußt will dieses von der Politik zu früh verschacherte Kind das einzige, was man ihr inmitten des Luxus ihrer Stellung vorenthält: ein paar Jahre wirklicher Kindheit.
Ab er eine Kronprinzessin soll und darf nicht mehr Kind sein: alles verbündet sich, um ihr die Verpflichtung zur unerschütterbaren Würde in Erinnerung zu bringen. Die Haupterziehung fällt neben der frömmlerischen Obersthofmeisterin den drei Tanten zu, den Töchtern Ludwigs XV., drei sitzen gebliebenen bigotten und bösartigen Jungfern, deren Tugend auch das böseste Schandmaul nicht zu bezweifeln wagt. Madame Adelaide, Madame Victoire, Madame Sophie, diese drei Parzen, nehmen sich der von ihrem Gatten vernachlässigten Marie Antoinette scheinbar freundschaftlich an; in ihrem versteckten Schmollwinkel wird sie in die ganze Strategie des höfischen Kleinkriegs eingeweiht, sie soll dort die Kunst der médisance, der heimtückischen Bosheiten, der unterirdischen Intrige lernen, die Technik der kleinen Nadelstiche. Anfangs macht diese neue Lehre der kleinen unerfahrenen Marie Antoinette Spaß, arglos plappert sie die gesalzenen Bonmots nach, aber im Grunde widerstrebt ihre eingeborene Aufrichtigkeit solchen Böswilligkeiten. Sich zu verstellen, ihre Gefühle in Haß oder Zuneigung zu verbergen, hat Marie Antoinette zu ihrem Schaden niemals erlernt, und bald macht sie sich auch aus richtigem Instinkt von der Vormundschaft der Tanten frei: alles Unehrliche ist ihrer geraden und hemmungslosen Natur zuwider. Ebensowenig Glück hat die Komtesse de Noailles mit ihrer Schülerin; unablässig empört sich das unbändige Temperament der Fünfzehnjährigen, der Sechzehnjährigen gegen die »mesure«, gegen die abgezirkelte, immer an einen Paragraphen gebundene Tageseinteilung. Aber daran darf nichts geändert werden. Sie schildert selbst ihren Tag: »Ich stehe um neuneinhalb oder um zehn Uhr auf, kleide mich an und sage mein Morgengebet. Dann frühstücke ich und gehe zu den Tanten, wo ich gewöhnlich den König treffe. Das währt bis zehneinhalb Uhr. Hierauf, um elf, gehe ich mich frisieren. Zu Mittag ruft man meinen Hofstaat, und da dürfen alle eintreten, außer Leuten ohne Rang und Namen. Ich lege Rot auf und wasche mir vor den Versammelten die Hände, dann entfernen sich die Männer, die Damen bleiben, und ich kleide mich vor ihnen an. Um zwölf ist Kirchgang. Ist der König in Versailles, so gehe ich mit ihm, meinem Gatten und den Tanten zur Messe. Ist er abwesend, so gehe ich allein mit dem Herrn Dauphin, aber immer zur selben Zeit. Nach der Messe essen wir öffentlich zu Mittag, aber das ist um einhalb zwei Uhr zu Ende, denn wir essen beide sehr rasch.