Anna Karenina | Krieg und Frieden. Leo Tolstoi

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Anna Karenina | Krieg und Frieden - Leo Tolstoi

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gegen das Ministerium gerichtete boshafte Sticheleien vorkamen. Mit der ihm eigenen Schnelligkeit der Auffassung verstand er die Bedeutung einer jeden dieser Sticheleien, von wem sie ausging und gegen wen sie gerichtet war und welcher Anlaß ihr zugrunde lag, und das machte ihm, wie immer, ein gewisses Vergnügen. Indes wurde heute dieses Vergnügen durch die Erinnerung an Matrona Filimonownas Ratschläge und an die unerfreulichen Umstände im Hause stark beeinträchtigt. Er las auch, daß Graf Beust, wie verlaute, nach Wiesbaden gereist sei, und eine Anzeige: »Keine grauen Haare mehr!«, und über den Verkauf einer leichten Equipage, und daß ein junges Mädchen eine Stellung suche; aber diese Nachrichten bereiteten ihm nicht das stille, ironische Vergnügen wie früher.

      Als er mit der Zeitung, einer zweiten Tasse Kaffee und einer Buttersemmel fertig war, stand er auf, klopfte sich die Semmelkrümel von der Weste, reckte seine breite Brust und lächelte dabei heiter, nicht als ob ihm gerade besonders froh zumute gewesen wäre, vielmehr wurde das heitere Lächeln durch die gute Verdauung hervorgerufen.

      Aber dieses heitere Lächeln brachte ihm auch sofort wieder die ganze Wirklichkeit zum Bewußtsein, und er wurde ernst und nachdenklich.

      Zwei Kinderstimmen (Stepan Arkadjewitsch erkannte die Stimmen seines jüngsten Sohnes Grigori und seines ältesten Töchterchens Tanja) wurden vom Nebenzimmer her durch die Tür vernehmbar. Die Kinder fuhren mit etwas umher, und es fiel etwas auf den Fußboden.

      »Ich habe es dir doch gesagt: auf das Dach darfst du keine Fahrgäste setzen!« rief das kleine Mädchen auf englisch. »Nun kannst du sie auch aufheben!«

      ›Alles ist aus der gewohnten Ordnung gekommen‹, dachte Stepan Arkadjewitsch. ›Da laufen nun die Kinder ganz allein im Hause umher.‹ Er ging zur Tür und rief sie zu sich. Sie ließen die Schachtel, die einen Eisenbahnzug darstellte, liegen und kamen zu ihrem Vater herein.

      Das Mädchen, des Vaters Liebling, lief dreist herein, umarmte ihn und hängte sich ihm lachend an den Hals; sie freute sich wie immer über den ihr wohlbekannten Duft des Parfüms, den sein Backenbart ausströmte. Nachdem sie endlich sein von der gebückten Haltung gerötetes und von Zärtlichkeit strahlendes Gesicht geküßt hatte, löste sie die Arme von seinem Halse und wollte wieder weglaufen; aber der Vater hielt sie zurück.

      »Was macht Mama?« fragte er und strich mit der Hand über das glatte, zarte Hälschen seiner Tochter. »Guten Morgen!« sagte er lächelnd zu dem Knaben, der ihn begrüßte.

      Er war sich dessen bewußt, daß er den Knaben weniger liebte, und gab sich stets Mühe, die Kinder gleichmäßig zu behandeln; aber der Knabe empfand das und erwiderte das kalte Lächeln des Vaters seinerseits nicht mit einem Lächeln.

      »Mama? Die ist schon aufgestanden.«

      Stepan Arkadjewitsch seufzte.

      ›Da hat sie also wieder die ganze Nacht nicht geschlafen‹, dachte er.

      »Nun, und ist sie vergnügt?«

      Das kleine Mädchen wußte, daß es zwischen Vater und Mutter einen Streit gegeben hatte, und daß die Mutter nicht vergnügt sein konnte, und daß der Vater das wissen mußte, und daß er sich verstellte, wenn er so leichthin danach fragte. Und sie errötete für ihren Vater. Er verstand das sofort und errötete nun gleichfalls.

      »Ich weiß es nicht«, antwortete sie. »Sie hat gesagt, wir sollten heute keinen Unterricht haben, sondern mit Miß Hull zu Großmama gehen«

      »Na, dann geh, meine liebe kleine Tanja! Ja so, warte noch mal«, sagte er, indem er sie doch noch zurückhielt und ihr zartes Händchen streichelte.

      Er nahm vom Kaminsims eine Schachtel Konfekt herab, die er gestern dahin gestellt hatte, und gab ihr zwei Stückchen; er wählte solche, die sie am liebsten aß: eine Schokoladenpraline und einen Fruchtbonbon.

      »Für Grigori?« fragte das Kind und zeigte auf die Praline.

      »Ja, ja!« Nochmals streichelte er ihr die Schulter und küßte sie auf die Stirn beim Haaransatz und auf den Hals; dann ließ er sie fort.

      »Der Wagen steht bereit!« meldete Matwei. »Es ist auch eine Bittstellerin da«, fügte er hinzu.

      »Ist sie schon lange hier?« fragte Stepan Arkadjewitsch.

      »Etwa ein halbes Stündchen.«

      »Wie oft habe ich dir befohlen, mir die Leute sofort zu melden!«

      »Sie müssen doch Ihren Kaffee in Ruhe trinken können«, erwiderte Matwei in einem freundlich-groben Tone, über den sein Herr nicht zornig werden konnte.

      »Na, dann bitte sie jetzt schnell herein«, sagte Oblonski, ärgerlich die Augenbrauen zusammenziehend.

      Die Bittstellerin, eine Frau Hauptmann Kalinina, bat um etwas ganz Unmögliches und Unvernünftiges; aber nach seiner Gewohnheit ersuchte Stepan Arkadjewitsch sie, Platz zu nehmen, hörte ihr, ohne sie zu unterbrechen, aufmerksam zu und gab ihr ausführliche Ratschläge, an wen sie sich zu wenden habe und wie sie es angreifen müsse, und schrieb sogar in gewandtem, bündigem Stile mit seiner großen, sperrigen, hübschen, klaren Handschrift einen Brief für sie an die Persönlichkeit, die ihr behilflich sein konnte. Nachdem er die Frau Hauptmann entlassen hatte, nahm er seinen Hut und stand noch einen Augenblick da, um zu überlegen, ob er auch nichts vergessen habe. Er überzeugte sich, daß er nichts vergessen hatte außer dem einen, was er gern vergessen wollte, – seine Frau.

      ›Ach ja!‹ Er ließ den Kopf sinken, und sein hübsches Gesicht nahm einen sorgenvollen Ausdruck an. ›Soll ich zu ihr hingehen oder nicht?‹ erwog er. Und eine innere Stimme sagte ihm, es sei zwecklos, hinzugehen, es liefe doch alles nur auf Lüge hinaus; ihre gegenseitigen Beziehungen wiederherzustellen und in Ordnung zu bringen, sei unmöglich, weil es weder möglich sei, Dolly wieder zu einem anziehenden, reizenden Weibe noch sich selbst zu einem alten, der Liebe unfähigen Manne zu machen. Es war jetzt alles notwendigerweise voller Lüge und Unwahrhaftigkeit; Lüge und Unwahrhaftigkeit aber waren seiner Natur zuwider.

      ›Indessen, irgendeinmal muß es doch geschehen; so kann die Sache ja nicht bleiben‹, sagte er zu sich, bestrebt, sich Mut zu machen. Er reckte die Brust heraus, holte eine Zigarette hervor, zündete sie an, rauchte ein paar Züge, warf sie in das Aschenschälchen aus Perlmutter, durchmaß mit schnellen Schritten den Salon und öffnete die Tür zum Schlafzimmer seiner Frau.

      4

      Er fand Darja Alexandrowna in der Nachtjacke, die Flechten ihres bereits recht dünn gewordenen, früher so dichten schönen Haares am Hinterkopf aufgesteckt, mit verfallenem, hagerem Gesicht und großen, erschrockenen Augen, die infolge der Hagerkeit des Gesichts stark hervortraten. Sie stand mitten unter allerlei Sachen, die im Zimmer umhergeworfen waren, vor einem offenen Wäscheschrank, aus dem sie einzelnes heraussuchte. Als sie die Schritte ihres Mannes hörte, hielt sie inne und blickte nach der Tür, wobei sie sich ohne Erfolg bemühte, ihrem Gesichte einen strengen, verächtlichen Ausdruck zu verleihen. Sie fühlte, daß sie vor ihm Furcht hatte und sich vor der bevorstehenden Aussprache ängstigte. Eben erst hatte sie von neuem versucht, das zu tun, was sie schon zehnmal in diesen drei Tagen zu tun versucht hatte: von den Sachen der Kinder und von ihren eigenen das Notwendigste herauszusuchen, um es zu ihrer Mutter bringen zu lassen. Und wieder konnte sie sich nicht endgültig dazu entschließen; aber auch jetzt sagte sie sich ebenso wie bei den früheren Versuchen, daß dieser Zustand nicht fortdauern könne; sie müsse irgend etwas unternehmen, ihren Mann bestrafen, bloßstellen, sich an ihm rächen, indem sie ihm wenigstens einen kleinen Teil des Schmerzes

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