Anna Karenina | Krieg und Frieden. Leo Tolstoi
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›Also wird er kommen‹, sagte sie sich. ›Wie gut habe ich daran getan, dem andern alles zu sagen.‹
Sie blickte auf die Uhr. Es fehlten noch drei Stunden, und die Erinnerung an die Einzelheiten ihres letzten Beisammenseins erhitzte ihr Blut.
›Mein Gott, wie hell es ist! Das ist ja ängstlich; aber dann habe ich es auch wieder gern, wenn ich sein Gesicht sehen kann, und ich liebe das märchenhafte Licht dieser hellen Nächte ... Mein Mann! Ach ja! ... Nun, Gott sei Dank, daß ich mit ihm völlig fertig bin.‹
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Wie an allen Orten, wo Menschen einigermaßen zahlreich zusammenkommen, so vollzog sich auch in dem kleinen deutschen Badeorte, den die Familie Schtscherbazki aufgesucht hatte, der übliche sozusagen soziale Kristallisationsprozeß, der jedem Mitgliede der menschlichen Gesellschaft einen festen, unveränderlichen Platz anweist. Wie nach festem, unveränderlichem Gesetze ein Wasserteilchen bei Kälte die bestimmte Form eines Schneekristalls erhält, so nahm auch jede neue Persönlichkeit, die in dem Badeorte ankam, sofort den ihr zukommenden Platz ein.
»Fürst Schtscherbazki samt Gemahlin und Tochter« kamen auf Grund der von ihnen gemieteten Wohnung und auf Grund ihres Namens und auf Grund des Ranges der Bekannten, die sie dort vorfanden, durch diese Kristallisation sofort an ihren bestimmten, gottgewollten Platz.
In dem Badeorte befand sich in diesem Jahre eine wirkliche deutsche Fürstin, und infolgedessen vollzog sich die Kristallisation der Gesellschaft noch wirksamer als zu andern Zeiten. Die Fürstin Schtscherbazkaja wünschte durchaus, ihre Tochter der hohen Frau vorzustellen, und vollzog diesen Akt wirklich schon am zweiten Tage. Kitty verneigte sich tief und anmutig in ihrem aus Paris verschriebenen »sehr einfachen«, das heißt höchst eleganten Sommerkleide. Die deutsche Fürstin sagte: »Ich hoffe, daß die Rosen bald auf dieses hübsche Gesichtchen zurückkehren werden«, und nun waren die Schtscherbazkis sofort auf ein bestimmtes Geleise der Lebenshaltung gestellt, aus dem herauszukommen nicht mehr möglich war. Schtscherbazkis wurden auch mit einer englischen Lady und ihrer Familie bekannt, und mit einer deutschen Gräfin und ihrem Sohne, der im letzten Kriege verwundet worden war, und mit einem schwedischen Gelehrten und mit einem Monsieur Canut und seiner Schwester. Hauptsächlich aber verkehrten Schtscherbazkis (das hatte sich ganz von selbst so gemacht) mit einer Moskauer Dame, Marja Jewgenjewna Rtischtschewa, und ihrer Tochter, die Kitty unsympathisch war, weil sie, ebenso wie sie selbst, an Liebeskummer krankte, und mit einem Moskauer Obersten, den Kitty von ihrer Kindheit an nur in Uniform und mit Achselstücken gesehen und gekannt hatte und der hier mit seinen kleinen Augen und dem offenen Hals und der bunten Krawatte recht komisch aussah und außerdem seinen Bekannten dadurch langweilig wurde, daß man sich gar nicht wieder von ihm losmachen konnte, wenn man sich einmal in ein Gespräch mit ihm eingelassen hatte. Als alles dies eine so feste Form angenommen hatte, begann Kitty sich sehr zu langweilen, um so mehr, da ihr Vater, der Fürst, nach Karlsbad gereist und sie mit der Mutter allein zurückgeblieben war. Sie hatte kein Interesse an den Leuten, die sie schon kannte, da sie wußte, daß sie an ihnen nichts Neues mehr entdecken werde. Ihre hauptsächlichste und liebste Beschäftigung in diesem Badeorte bestand darin, die, die sie noch nicht kannte, zu beobachten und zu erraten, was das wohl für Leute sein möchten. Es lag in Kittys Charakter, von allen Menschen das Beste zu denken, und ganz besonders von denen, die sie nicht kannte. Auch während sie jetzt zu erraten suchte, wer und was diese Leute wohl seien und was für Beziehungen zwischen ihnen beständen, malte sie sich die schönsten, edelsten Charaktere aus und glaubte in dem, was sie beobachtete, eine Bestätigung ihrer Mutmaßungen zu finden.
Ihre besondere Teilnahme erregte unter diesen Persönlichkeiten ein russisches Fräulein, das zusammen mit einer älteren, kranken russischen Dame nach dem Badeorte gekommen war, mit einer Madame Stahl, wie sie von allen genannt wurde. Madame Stahl gehörte zur obersten Schicht der Gesellschaft, war aber so krank, daß sie nicht gehen konnte und nur ganz selten an besonders schönen Tagen in einem Rollstuhl am Brunnen erschien. Indessen sprach die Fürstin Schtscherbazkaja ihre Ansicht dahin aus, daß Madame Stahl nicht sowohl infolge ihrer Krankheit wie aus Stolz den Verkehr mit den anwesenden Russen meide. Das russische Fräulein versah bei dieser Madame Stahl die Stelle einer Pflegerin und war auch mit allen andern Schwerkranken, deren es in dem Badeorte eine ganze Menge gab, bekannt und nahm sich ihrer in der unbefangensten, natürlichsten Weise an. Dieses russische Fräulein war nach Kittys Beobachtungen keine Verwandte der Madame Stahl, dabei aber auch keine für Lohn angenommene Pflegerin. Sie wurde von Madame Stahl Warjenka genannt, von anderen Mademoiselle Warjenka. Mit lebhaftem Interesse stellte Kitty ihre Beobachtungen an über die Beziehungen dieses Fräuleins zu Frau Stahl und zu andern ihr unbekannten Personen; ja noch mehr: Kitty empfand, wie das nicht selten vorkommt, eine unerklärliche Neigung zu dieser Mademoiselle Warjenka und fühlte, wenn ihre Blicke sich trafen, daß auch jene an ihr Gefallen fand.
Mademoiselle Warjenka sah nicht so aus, als habe sie die erste Jugend bereits hinter sich, sondern eher wie ein Wesen, dem die Jugend überhaupt versagt ist; man konnte sie auf neunzehn Jahre schätzen, aber auch auf dreißig Jahre. Betrachtete man ihre Gesichtszüge, so konnte man sie trotz ihrer kränklichen Hautfarbe eher hübsch als häßlich nennen. Auch eine schöne Gestalt hätte man ihr zusprechen können, wäre nicht ihr Körper allzu mager und ihr Kopf für ihre mittlere Größe unverhältnismäßig groß gewesen; aber auf Männer konnte sie keine Anziehungskraft ausüben. Sie glich einer schönen, zwar noch vollblättrigen, aber doch schon verblühten, duftlosen Blume. Außerdem konnte sie auch noch deswegen auf die Männer nicht anziehend wirken, weil ihr das mangelte, was Kitty im Übermaße besaß: das tiefinnerliche Lebensfeuer und das Bewußtsein der eigenen Anziehungskraft.
Sie schien stets mit Dingen von entschieden ernstem Charakter beschäftigt zu sein, und es machte daher den Eindruck, als könne sie für nichts Andersartiges Sinn haben. Auf Kitty übte sie gerade durch diesen starken Gegensatz zu ihrer eigenen Person eine besondere Anziehungskraft aus. Kitty fühlte, daß sie bei diesem Mädchen und dessen ganzer Lebensgestaltung ein vorbildliches Beispiel für das finden werde, wonach sie jetzt so schmerzlich suchte: ernste Lebensinteressen und Lebenswerte, außerhalb der ihr jetzt so zuwider gewordenen gesellschaftlichen Beziehungen eines jungen Mädchens zum männlichen Geschlechte, die ihr jetzt als eine schmähliche Ausstellung einer auf einen Käufer wartenden Ware erschienen. Je länger Kitty ihre unbekannte Freundin beobachtete, um so mehr kam sie zu der Überzeugung, daß dieses Mädchen wirklich das ideale Wesen sei, als das es ihr erschien, und um so sehnlicher wünschte sie mit ihr bekannt zu werden.
Die beiden Mädchen begegneten einander mehrmals täglich, und bei jeder Begegnung fragten Kittys Augen: ›Wer sind Sie? Was sind Sie? Nicht wahr, Sie sind wirklich das prächtige Wesen, für das ich Sie halte? Aber glauben Sie ja nicht‹, fügte ihr Blick hinzu, ›daß ich so dreist bin, Ihnen meine Bekanntschaft aufdrängen zu wollen. Ich freue mich einfach Ihres Anblicks und habe Sie sehr gern.‹ – ›Ich habe Sie auch sehr gern‹, erwiderte der Blick des unbekannten Mädchens, ›und Sie sind sehr, sehr lieb und nett. Und ich würde Sie noch lieber haben, wenn ich nur mehr Zeit hätte.‹ Und in der Tat, Kitty sah, daß sie stets beschäftigt war: entweder führte sie die Kinder einer russischen Familie vom Brunnen nach Hause, oder sie brachte einer Kranken ein Umschlagtuch und wickelte sie darin ein, oder sie war bemüht, einen nervösen Kranken zu unterhalten und zu zerstreuen, oder sie kaufte für jemand Backwerk zum Kaffee.
Bald nach der Ankunft der Familie Schtscherbazki begannen beim morgendlichen Brunnentrinken noch zwei Personen regelmäßig zu erscheinen, die die allgemeine Aufmerksamkeit, jedoch nicht in freundlichem Sinne, auf sich zogen. Es waren dies: ein Mann von hohem Wuchse, aber gebückter Haltung, mit gewaltig großen Händen, in einem kurzen, für seine Gestalt nicht passenden alten Überzieher, mit schwarzen, naiv blickenden und dabei doch furchterregenden Augen, und eine sehr schlecht und geschmacklos gekleidete Frau mit